Leitartikel Streit ums Kanzleramt mit angezogener Handbremse

Die Erwartungen waren groß. Zu groß, um es deutlich zu formulieren. Angela Merkel und  Martin Schulz haben sich ordentlich  die Meinung gesagt. Wobei der Herausforderer  temperamentvoller und emotionsgeladener  wirkte als die Teflon-Kanzlerin. Aber so wirkte vor vier Jahren auch Peer Steinbrück gegen Merkel. Und trotzdem wurden aus diesen Stimmungen am Ende nicht entscheidend mehr Stimmen für die SPD.

Leitartikel: Streit ums Kanzleramt mit angezogener Handbremse
Foto: SZ/Robby Lorenz

Viel ist darüber geschrieben und geklagt worden, dass dieses „TV-Duell“ um den (Wieder-)Einzug in die Berliner Regierungszentrale seinen Namen gar nicht verdient, weil die Spielregeln dafür viel zu starr seien. Das stimmt, ist aber allenfalls die halbe Wahrheit. Merkel und Schulz stritten auch deshalb zum Teil mit angezogener Handbremse, weil man ja womöglich einander doch zum Weiterregieren braucht. Und auch sonst war der Herausforderer nicht unbedingt in einer beneidenswerten Lage. Schulz musste Merkel angreifen, ohne zu verletzen. Denn die Kanzlerin ist allseits beliebt, sogar in den Reihen der SPD, weshalb sich ein Übermaß an persönlicher  Aggressivität  schnell gegen den Absender hätte wenden können. Schulz hat diese Gratwanderung sehr professionell gemeistert. Er war offensiver.

Das entscheidende Dilemma für Schulz bestand allerdings darin, die politische Bilanz der großen Koalition schlecht in Bausch und Bogen verdammen zu können, wenn die „Sozis“ in den letzten vier Jahren doch so gut mitregiert haben. Fundamentale Unterschiede in den Auffassungen kristallisierten sich noch am ehesten bei der Türkei-Politik heraus. Schulz machte sich glasklar für den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara stark, derweil Merkel hier im Ungefähren blieb. Ob solche Fragen wahlentscheidend sind, steht freilich auf einem anderen Blatt. Auch in der Sozialpolitik wurden  Differenzen deutlich, was bei Schulz aber eher nach der Methode funktionierte, dass man alles Gute  noch viel besser machen könnte, wenn er denn Kanzler sei statt Merkel. Vor fast zwei Jahrzehnten hatte die SPD mit diesem Rezept Erfolg. Gerhard Schröder jagte seinerzeit Helmut Kohl vom Hof. Nur waren die Wähler des Oggersheimers damals kollektiv überdrüssig, was sich über Merkel derzeit absolut nicht sagen lässt. Im Gegenteil.

Schulz hat sich sehr wacker geschlagen.   Aber neue Hoffnungen auf einen politischen Wechsel konnte er kaum wecken. Wie auch, wenn es keine Wechselstimmung gibt? Mindestens hätte er dafür dieses „TV-Duell“ haushoch gewinnen müssen. Hat er aber nicht. Für Schulz waren die 95 Minuten zur besten Sendezeit aber schon deshalb ein Erfolg, weil er sich erstmals einem Millionenpublikum präsentieren konnte. Merkel kennen praktisch alle Leute, Schulz viele nicht. Viele haben am Sonntagabend gelernt: Auch der könnte Kanzler. Insbesondere noch unentschlossene Wähler fangen erst jetzt an, sich ernsthaft mit der Bundestagswahl in drei Wochen zu beschäftigen. Eine Orientierungshilfe war das so genannte Duell deshalb allemal.

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