Leitartikel Die müden Boxer haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt

Aus finanzieller Sicht ist das Regieren für die große Koalition bislang ein Leichtes. Mit schöner Regelmäßigkeit korrigierten sich die Steuerschätzer deutlich nach oben. Der Staat frohlockte über die massiven Mehreinnahmen und gab das Geld mit vollen Händen aus.

Steuerschätzer dämpfen Einnahme-Erwartungen des Bundes
Foto: SZ/Robby Lorenz

Diese Unbeschwertheit stößt nun an Grenzen. Nicht, dass etwa die Pleite droht. Das gesamtstaatliche Einnahme-Plus kann sich auch in den kommenden Jahren sehen lassen. Es fällt jedoch nicht mehr ganz so üppig aus wie in der Vergangenheit. Für die Bundesregierung kommt die aktuelle Steuerschätzung nicht unerwartet. Die Daten fußen ja auf ihrer abgesenkten Wachstumsprognose. Nur hat man nicht den Eindruck, dass Schwarz-Rot die Zeichen der Zeit wirklich erkannt hat.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz dürfte die Situation mit gemischten Gefühlen betrachten. Einerseits hilft der neue Steuerbefund dem Kassenwart ein wenig, immer neue Begehrlichkeiten aus den verschiedenen Ministerien abzuwehren. Andererseits schränkt die neue Lage den Verteilungsspielraum für Schwarz-Rot längerfristig ein. Du gibst mir die verbesserte Mütterrente, ich winke dafür die Frührente mit 63 durch – nach diesem Muster haben Union und SPD bisher Politik gemacht. Aber so wird es in Zukunft nicht mehr funktionieren. Wenn die Steuereinnahmen sich eher im erwarteten Rahmen bewegen anstatt immer wieder kräftig darüber hinaus zu schießen, dann müssen klare Prioritäten gesetzt werden. Und das birgt Konfliktpotenzial.

Die Gründe für die Konjunkturabschwächung in Deutschland liegen auf der Hand: globale Handelskriege, ein drohender Brexit, Unwägbarkeiten beim Euro wegen der Schuldenmacherei Italiens. Aber auch ein zunehmend spürbarer Fachkräftemangel sowie der digitale Nachholbedarf drücken auf die Wachstumsaussichten und damit auf das Steueraufkommen. Vor diesem Hintergrund kann die politische Marschrichtung nur lauten, die Wirtschaft zu stärken und den privaten Konsum besser zu stimulieren. In Industriestaaten wie Belgien, Frankreich oder den USA sinken die Unternehmenssteuern auf breiter Front. Scholz beklagt das.

Aber sich nur darin zu erschöpfen, bedeutet in der Konsequenz massive Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen. Steuererleichterungen sind auch für die privaten Verbraucher geboten. Warum den Solidaritätszuschlag erst im Jahr 2021 beschneiden, wie es im Koalitionsvertrag vorgesehen ist? Warum nicht deutlich eher? Hier könnte die Union ein finanzpolitisches Ausrufezeichen setzen und den Finanzminister mit SPD-Parteibuch vor sich hertreiben. Scholz ist an dieser Stelle nämlich völlig frei von Ambitionen. Notwendig ist darüber hinaus eine Bildungsoffensive, die ihren Namen wirklich verdient hat. Doch hier rangeln Bund und Länder um die Kompetenzen.

Keine guten Aussichten also für klare Prioritäten. Eher dürften sich Union und SPD wie zwei müde Boxer weiter über die Runden schleppen wollen. Für einen großen finanzpolitischen Schlag sind sie zu schwach.

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