Türkei Das System Erdogan ist auf Sand gebaut

Ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei sieht alles nach einer dauerhaften Zementierung der Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP aus. Doch der Eindruck täuscht. Erdogans Türkei gleicht immer mehr einer nahöstlichen Despotie, die ohne den Mann an der Spitze nicht existieren kann. Sein Land und er selbst sind isoliert.

Scheinriese Erdogan
Foto: SZ/Robby Lorenz

Ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei sieht alles nach einer dauerhaften Zementierung der Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP aus. Doch der Eindruck täuscht. Erdogans Türkei gleicht immer mehr einer nahöstlichen Despotie, die ohne den Mann an der Spitze nicht existieren kann. Sein Land und er selbst sind isoliert.

Die Kernbestandteile jeder Demokratie – der freie Wettstreit der Ideen und die wirksame Kontrolle der Macht – sind in der Türkei außer Kraft gesetzt. Seit dem Umsturzversuch vom 15. Juli 2016 werden alle Befugnisse auf die Person Erdogans konzentriert. Der Staatschef ist Oberbefehlshaber der Armee, Chef der Regierung, Vorsitzender der Regierungspartei und gebärdet sich außerdem als oberster Richter. Niemand innerhalb und außerhalb der Türkei wunderte sich, als Erdogan kürzlich in einem Interview betonte, der Protestmarsch der Opposition von Ankara nach Istanbul könne nur stattfinden, weil die Regierung die Demonstranten gewähren lasse: Auch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit hängt in der Türkei von Erdogans Gnaden ab.

Kritik an der zunehmenden Willkür wehren der Staatschef und seine Anhänger mit dem Hinweis auf das demokratische Mandat des ersten direkt gewählten Präsidenten des Landes ab. Die beim umstrittenen Referendum im April beschlossene Einführung des Präsidialsystems sei nötig, um Reibungsverluste zwischen Parlament und Staatschef zu beseitigen. Doch in Wirklichkeit geht es nur um die Macht des Präsidenten. So ist im System Erdogan keine Machtübergabe auf eine andere Person vorgesehen: Die AKP hat das Präsidialsystem nur deshalb durchgesetzt, weil sie sicher ist, dass Erdogan die Präsidentenwahl in zwei Jahren gewinnen wird. Selbst innerhalb der AKP gibt es keinen Politiker, der eine solche Machtfülle für sich beanspruchen könnte.

Der geordnete Übergang der Regierungsmacht ist ohnehin kein Bestandteil von Erdogans System, weil dies das Ende dieses Systems bedeuten würde. Der Druck auf Andersdenkende und die Benachteiligung der Opposition werden damit zu unverzichtbaren Bestandteilen der Politik. Für eine Karriere als Beamter, Richter oder Akademiker sind enge Verbindungen zur AKP wichtiger als Sachkenntnisse.

Doch das System Erdogan bringt keine Stabilität, es ist auf Sand gebaut. Hochbegabte Experten verlassen das Land, weil sie keine Perspektive für sich sehen oder die Verhaftung befürchten. International hat Erdogan die Türkei ins Abseits geführt. Mit den Europäern hat er sich dermaßen überworfen, dass sie Kontakte zu ihm und seinen Ministern auf ein Minimum reduzieren. Erdogan kann aber nicht mehr zurück. Ein Kurswechsel hin zu Reformen würde seine persönliche Macht untergraben. So ist er dazu verdammt, die Rechte seiner Bürger immer weiter einzuschränken, bei jedem Rückschlag neue Feinde als Sündenböcke zu nennen und die Staatsgeschäfte immer stärker an sich zu ziehen. Das kann für ihn eine ganze Weile gutgehen, doch auf Dauer ist der Präsident zum Scheitern verurteilt.

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