In Region Idlib sind 700 000 Menschen auf der Flucht Neuer blutiger Tiefpunkt des Bürgerkriegs in Syrien

In der an Grausamkeiten reichen Geschichte des syrischen Bürgerkrieges steht ein neuer Tiefpunkt bevor. 700 000 Menschen sind mitten im Winter in der Provinz Idlib auf der Flucht, doch die Gefechte kommen immer näher.

 Thomas Seibert

Thomas Seibert

Foto: Seibert

Mit einem Einmarsch in Idlib versucht die Türkei, den Vormarsch der syrischen Streitkräfte in der Region aufzuhalten und eine Massenflucht über die türkische Grenze zu verhindern.

Bisher heizt die Intervention die Kämpfe jedoch noch weiter an. Präsident Erdogan droht inzwischen mit türkischen Angriffen in ganz Syrien. Auch das türkisch-russische Bündnis in Syrien wackelt. Die Uno meldet die größte Vertreibung von Zivilisten seit dem Kriegsausbruch in Syrien im Jahr 2012. Viele Flüchtlinge haben kein Dach über den Kopf, während Syrien wie andere Teile des Nahen Ostens gerade einen schweren Kälteeinbruch erleben. Syrische Aktivisten meldeten am Donnerstag, in einem der Flüchtlingszelte in der Region sei ein kleines Mädchen erfroren.

Die Welt schaut mit einem Achselzucken zu; sie hat sich an Schreckensnachrichten aus Syrien gewöhnt. So lange keine Flüchtlinge in der EU auftauchen, sieht in Brüssel, Berlin oder Paris kaum jemand Handlungsbedarf. Bundesaußenminister Heiko Maas äußert zwar „Wut und Ärger“, aber viel tun kann er nicht. Deutschland und andere europäische Staaten waren in den vergangenen Jahren froh, sich nicht näher mit dem Gemetzel in Syrien befassen zu müssen, und hatten Akteuren wie Russland und der Türkei das Feld überlassen. Entsprechend gering ist heute der Einfluss Europas, wenn es darum geht, immer neue Gefechte und immer neues Leid für die Zivilbevölkerung in dem Bürgerkriegsland zu verhindern.

Das Nichtstun könnte schwere Folgen haben. Wenn die Türkei, die bereits 3,6 Millionen Syrer aufgenommen hat, einen Ansturm von hunderttausenden Menschen aus Idlib erlebt, wird sich die Frage nach der Zukunft des europäisch-türkischen Flüchtlingsabkommens völlig neu stellen: Anders als bei Abschluss des Vertrages im Jahr 2016 wird die Türkei heute nicht mehr ohne weiteres bereit sein, gegen Milliardenzahlungen aus Brüssel die vielen Menschen an der Weiterreise nach Europa zu hindern.

Selbst eine sofortige Waffenruhe in Idlib würde die Probleme nicht lösen, sondern nur aufschieben. Der syrische Präsident Assad will in Idlib seinen Sieg im Krieg besiegeln, koste es, was es wolle. Die Provinz ist der letzte Rückzugsraum von Rebellen, von denen einige Unterstützung aus der Türkei erhalten. Assads Schutzmacht Russland könnte die Syrer zwar beeinflussen, lässt sie aber gewähren. Die Türkei wird die Rückeroberung auf Dauer nicht aufhalten können, wenn sie sich nicht völlig mit Russland überwerfen will. Hilfe der Nato für die Türkei wird es auch nicht geben.

Die Frage ist nur, wie lange der Kampf um Idlib noch dauern wird und wie viele unschuldige Menschen dabei sterben werden. Die Erfahrungen aus neun Jahren Krieg lassen Schlimmes befürchten.

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