Leitartikel Die Türkei kann jetzt nicht mehr als Demokratie gelten

Die Bedeutung der Entscheidung der türkischen Wahlkommission, die Oberbürgermeisterwahl in der Metropole Istanbul zu annullieren und eine Neuwahl anzusetzen, reicht weit über die Grenzen der Bosporus-Metropole hinaus.

Nach Wahl-Annullierung: Die Türkei kann jetzt nicht mehr als Demokratie gelten
Foto: SZ/Robby Lorenz

Die Wahl wird nur aus einem einzigen Grund wiederholt: weil die Regierungspartei AKP von Präsident Erdogan im ersten Anlauf gegen die Opposition verloren hatte. Mit Hilfe der Neuwahl will sich die AKP jetzt doch noch die Macht in der größten Stadt des Landes sichern. Damit verabschiedet sich die Türkei von wichtigen Grundsätzen der Demokratie: freie Wahlen und Anerkennung des Wählerwillens.

Das heißt nicht, dass bisher alles in Ordnung gewesen wäre. Schritt für Schritt hatte die Erdogan-Regierung in den vergangenen Jahren wichtige Institutionen unter ihre Kontrolle gebracht, die in einer Demokratie unabhängig von den Machthabern sein sollten. So wurden Justiz und Medien auf Linie gebracht, das Parlament wurde entmachtet, gewählte Politiker wurden ins Gefängnis gesteckt, zuletzt wurde neu gewählten kurdischen Bürgermeistern das Amt verweigert. Im Jahr 2015 ließ Erdogan schon einmal eine Parlamentswahl wiederholen, weil ihm das Ergebnis nicht passte. Aber damals zweifelte er das Wählervotum an sich nicht an, er setzte lediglich alle Hebel in Bewegung, um die Türken erneut zur Urne rufen zu können.

Mit der Istanbuler Entscheidung überschreitet die Türkei jedoch den Rubikon. Der Opposition wird ein von der Wahlkommission bereits festgestellter Wahlsieg aberkannt, und zwar auf der Basis völlig absurder Argumente der AKP. Das bedeutet, dass ab sofort auch die Wahlkommission als Arm der Regierung gelten muss. Wenn die friedliche Übergabe der Macht in der größten Stadt des Landes nicht mehr funktioniert, kann von freien Wahlen keine Rede mehr sein. Der politische Wettbewerb wird damit abgewürgt.

Bei ihrer Gründung vor 18 Jahren trat Erdogans Partei AKP als eine Art muslimische CDU an, um mit islamisch inspirierten Werten innerhalb der demokratischen Ordnung den Bürgern zu dienen. Spätestens seit Montag hat die AKP ihre Legitimität als demokratische Partei verloren. Das einstige Vorzeigeland Türkei, das noch vor zehn Jahren als Modell einer Synthese von Islam, Demokratie und Marktwirtschaft galt, ist zu einer Autokratie geworden.

Der Präsident hat mit der Zeit und besonders durch die von ihm mit vollem Einsatz durchgesetzte neue Verfassung immer mehr Machtbefugnisse an sich gezogen. Heute hat die Machtkonzentration ein solches Ausmaß erreicht, dass wichtige Posten im Staat mit Mitgliedern aus der Präsidentenfamilie besetzt werden.

Die Entwicklung ist nicht nur für die türkische Innenpolitik eine Katastrophe. Auch die Wirtschaftskrise dürfte sich nun verschärfen, weil die wachsende Willkür die Investoren verschreckt. Außenpolitisch bricht ebenfalls eine neue Zeitrechnung an. Die Türkei kann nicht mehr als Demokratie gelten. Der Westen muss sein Verhältnis zu Ankara überdenken.

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