Leitartikel Die Flucht ins Neutrale bietet keinen neuen Schutz

Die Logik der atomaren Abschreckung ist absurd. Man bedroht sich gegenseitig mit Waffen, die nicht nur den „Gegner“ vernichten, sondern auch einen selbst. Waffen also, die man niemals benutzen darf und will.

 Werner Kolhoff

Werner Kolhoff

Foto: SZ/Robby Lorenz

Diese Logik ist Folge der Tatsache, dass es Atomwaffen überhaupt gibt, und dass sie in den Händen nicht nur eines Staates liegen, sondern vieler, die zueinander in Misstrauen oder gar Feindschaft stehen.

Die atomare Abschreckung hat bisher funktioniert, das spricht für sie. Gegen sie spricht das hohe Risiko im Fall eines Versagens: Es ist die Weltvernichtung. Es gäbe andere, bessere Logiken. Zum Beispiel die Abschaffung aller Atomwaffen, weltweit. Oder die Auflösung von Misstrauen und Feindschaften.

Doch derzeit ist die Welt ein atomares Pulverfass, auf dem immer mehr Staaten mit dem Feuer spielen. Ob mit oder ohne Deutschland. Und in dieser Feststellung liegt auch die Antwort auf die zwischen SPD und Union zunehmend verbissen geführte Diskussion über die Fortsetzung der kleinen Absurdität in der großen, der deutschen „nuklearen Teilhabe“. Deutschland verfügt nicht über Atomwaffen, ist aber Teil des Nato-Bündnisses und soll selbst zur nuklearen Abschreckung beitragen, indem es das Recht hat, mit eigenen Flugzeugen amerikanische Atombomben an ihre Ziele zu transportieren, wenn es so weit ist. Damit wird Deutschland zur kleinen Atommacht – ohne eigenes Arsenal. Die SPD will das beenden.

Im Western-Film wäre Deutschland bei einem Ausstieg sozusagen derjenige Teilnehmer an der drohenden Schießerei, der den Colt zuerst herunternimmt und sich für (atom)waffenfrei erklärt. Und dann? Würden die USA sich dann noch mit der eigenen Existenz für ein bedrohtes Deutschland einsetzen? Und: Warum sollte die Nato Deutschland weiter eine politische Teilhabe am Atomwaffeneinsatz, also Mitsprache, gewähren, wenn es die reale Teilhabe, die militärische verweigert?

Es kann im Übrigen keine Rede davon sein, dass es keine Bedrohungen mehr gäbe. Im Gegenteil. Zu erinnern ist an Putins Rüstungsrede vom März 2018, als er zahlreiche neue atomare Raketensysteme verkündete. Zu erinnern ist auch an die Annexion der Krim, die es wohl kaum gegeben hätte, wenn die Ukraine nicht zuvor ihre Atomwaffen abgegeben und Russland getraut hätte. Zu erinnern ist an die Bedrohungen durch andere Nuklearmächte, etwa China oder Iran.

Natürlich lässt das bisherige Sicherheitsgefühl unter dem amerikanischen Nuklearschirm erheblich nach, wenn in Washington ein Präsident wie Trump sitzt, der den Atomkrieg wieder für führbar hält. Doch die Flucht Deutschlands ins Atomwaffenfreie, letztlich ins Neutrale, bietet keinen neuen Schutz. Sie ist nicht die Alternative. Das sind nur politische Abrüstungsinitiativen auch aus Berlin, die dazu beitragen, dass alle Seiten ihre fürchterlichen Nuklearcolts gleichzeitig beiseitelegen. Dafür allerdings sollte die aktuelle Debatte Anlass und Anfang sein.

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