Leitartikel Die Verantwortung liegt ab jetzt bei den Ländern

Es kommt nicht darauf an, ob jemand eingeknickt ist und ein anderer gewonnen hat. Es kommt darauf an, dass das Richtige beschlossen wurde. Nämlich eine vernünftige Balance zwischen Gesundheitsschutz und persönlicher wie wirtschaftlicher Freiheit.

Werner Kolhoff

Werner Kolhoff

Foto: SZ/Robby Lorenz

Und zwar zu jedem Zeitpunkt des Infektionsgeschehens.

Insofern ist das Triumphgeschrei etwa der FDP, dass Angela Merkel ihre Politik habe „korrigieren“ müssen, ebenso verfehlt wie das der AfD. Wenn die Infektionszahlen noch so gewesen wären, wie sie vor drei Wochen waren, würde es die jetzigen Lockerungsbeschlüsse nicht geben. Merkel hat stets gefordert: erst die Zahlen abwarten, dann öffnen, aber vorsichtig. Die Kanzlerin hat dafür regelrecht Zeit geschunden und auch Schmähungen in Kauf genommen. Aber sie regiert verantwortlich, nicht populistisch.

Freilich, der Druckkessel stand zuletzt kurz vorm Explodieren. Was am Mittwoch beschlossen wurde, hatte Berlin im Detail nicht mehr in der Hand. Die Ministerpräsidenten haben mit ihren eitlen Alleingängen so kurz vor einer gemeinsamen Beratung eine effektive Koordination durch die Zentrale praktisch unmöglich gemacht – zu Lasten der Akzeptanz der Maßnahmen. Jetzt kann auch offiziell jeder tun, was er will. Das ist der Kern der Beschlüsse. Möglich ist das, weil die Zahlen niedrig sind. Und weil sie sich regional unterscheiden. Das neue Prinzip hat aber auch eine Kehrseite: Ab jetzt liegt die Verantwortung für das weitere Infektionsgeschehen weitgehend bei den Ländern und Landkreisen.

An zwei Punkten wird diese Verantwortung der unteren Gliederungen sich nun sehr schnell beweisen müssen. Zum einen bei der Durchsetzung der weiterhin notwendigen Hygiene- und Abstandsregeln, auf die sich die ganze Strategie nun noch mehr stützt. Populär ist das nicht. Bisher war man sehr nachsichtig, zu Lasten aller, die sich verantwortungsvoll verhalten. Doch die Zahl der Verstöße wird mit jeder geöffneten Kneipe und jeder Reisemöglichkeit genauso zunehmen, wie das Risikobewusstsein abnehmen wird.

Und zweitens: Wird die gemeinsame Festlegung, landkreisweise wieder zu massiven Verboten zurückzukehren, wenn irgendwo die Zahl der Neuinfektionen über 50 pro Woche und 100 000 Einwohner steigt, auch wirklich eingehalten werden? Auch das erfordert Mut. Dann müsste zum Beispiel im Landkreis Greiz und in der Stadt Rosenheim, die derzeit darüber liegen, weiterhin alles geschlossen bleiben. Und vieles auch in einigen anderen Kreisen, wo man sehr nahe daran ist. Willkürlich ist die Obergrenze nicht gewählt – sie markiert jene Zahl von Neuinfektionen, die gerade noch als beherrschbar gilt, um lokale Ausbrüche gezielt einzugrenzen. Das ist aber notwendig, um den Shutdown des ganzen Landes beenden zu können.

Aber damit müssen sich nun die Ministerpräsidenten herumschlagen. Nicht mehr Merkel. Die kommt erst wieder ins Spiel, wenn die lange ersehnten Lockerungen schief gehen sollten und alle erneut um Hilfe rufen.

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