Leitartikel Warum sich Brüssel und London nicht verstehen

Vielleicht waren es wieder einmal die Anzeichen einer gewissen europäischen Überheblichkeit, die in der Bilanz nach der ersten Verhandlungsrunde zwischen der EU und Brüssel durchschienen.

Leitartikel: Warum sich Brüssel und London nicht verstehen
Foto: SZ/Robby Lorenz

Michel Barnier steht für die 27 Staats- und Regierungschefs, die von London zumindest die Akzeptanz, wenn nicht sogar die Unterwerfung unter die europäischen Regeln verlangen. Dagegen setzt der Chef der britischen Delegation, David Frost, so etwas wie ein inzwischen gewachsenes Selbstbewusstsein des Vereinigten Königreiches, das in dem Credo gipfelt, es müsse auch Länder geben, die geografisch zu Europa gehören, aber unabhängige Staaten sein können. Mit dem Recht, eigene Spielregeln zu erlassen und diese durchzusetzen. Und die deshalb ganz sicherlich nicht einen Vertrag akzeptieren, der sie zwingt, die Vorgaben der Gemeinschaft akzeptieren. Dazu gehört nach britischem Verständnis sogar das Recht, ein höheres Niveau bei Standards zu schaffen, als es in der EU herrscht. Brüssel fällt es schwer, diese Argumentation nachzuvollziehen, weil sie letztlich der ideologische Unterbau für den nächsten Schritt sein würde: das Rosinenpicken. Denn genau das schwebt London vor, wie die Beratungen in dieser Woche zeigten. Bei der inneren Sicherheit möchte man nur allzu gerne bei der Terrorabwehr oder der Organisierten Kriminalität zusammenarbeiten, beim Datenschutz aber nicht. Und die Charta der Menschenrechte soll auch nicht gelten. Welche Standards für Medizin-Produkte oder finanzielle Dienstleistungen gelten sollen, könne man – ebenso wie bei der Fischerei – von Fall zu Fall entscheiden. Das kommt einem Durchlöchern des Binnenmarktes gleich. Rhetorisch ist die britische Position scheinbar plausibel, in der Praxis kommt sie dem Versuch gleich, sich das Gute vom europäischen Binnenmarkt nehmen zu dürfen, ohne Verpflichtungen eingehen zu wollen. Nur: So funktionieren weder die EU noch eine Freihandels-Partnerschaft. Und es sollte doch sehr wundern, wenn London mit dieser Einstellung ein dichtes und tragfähiges Netz von neuen Verbündeten finden sollte.

Für die EU ist diese Verhandlungsstrategie eine Herausforderung. Denn sie zielt auf die durchaus verbreitete Unzufriedenheit auch in anderen Mitgliedstaaten ab, wo sich Regierungen fragen, ob man auf dem Binnenmarkt wirklich jede Schraube und jede soziale Detailfrage regeln müsse. Dabei mag es ja  nachvollziehbar sein, dass vor lauter Lust auf Harmonisierung die Gleichmacherei auf dem gemeinsamen Markt überzogen wurde. Tatsache bleibt aber auch, dass die Hersteller mehr als nur dankbar dafür sind, dass sie sich mit ihren Produkten vom Heftpflaster bis zur Melkmaschine nicht nach 27 nationalen Vorgaben, sondern einer europäischen richten müssen. Die Erfahrung, welche bürokratische Belastung die Zulassung eigener Produkte für unterschiedliche Märkte mit differierenden Standards darstellt, fehlt den Briten noch. Sie werden, egal wie logisch ihr neues Selbstbewusstsein auch sein mag, noch spüren, dass die Harmonisierung von Märkten ein Geschenk ist.

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