Leitartikel Syrien seinem Schicksal zu überlassen, rächt sich jetzt

Während die Schlagzeilen hierzulande wahlweise vom Coronavirus oder dem Kandidatenrennen in der CDU bestimmt werden, vollzieht sich in Nordsyrien eine humanitäre Katastrophe.

 Stefan Vetter

Stefan Vetter

Foto: SZ/Robby Lorenz

Allein seit Dezember wurden fast eine Millionen Menschen wegen der Grausamkeiten des Assad-Regimes und seines russischen Verbündeten zu Flüchtlingen im eigenen Land. Sie leben unter verheerenden Bedingungen in der syrisch-türkischen Grenzregion und sitzen dort praktisch in der Falle. Nun hat sich der Konflikt weiter zugespitzt. Die Türkei, die dort ebenfalls militärisch präsent ist, fordert Beistand von der Nato und droht damit, die Grenzen für Flüchtlinge nach Europa zu öffnen. Jetzt rächt sich, dass der Westen die geschundene Region ihrem Schicksal überlassen hat. Die Aktivitäten erschöpften sich in Appellen zur Mäßigung. Ein schwerer Fehler.

Dabei hätten alle gewarnt sein müssen: Als die USA Ende des vergangenen Jahrs ihre Truppen aus Syrien zurückzogen, war klar, dass damit ein Sicherheitsvakuum entstehen würde. Ankara wiederum hat die Verlässlichkeit Russlands überschätzt. Ein gemeinsames Abkommen sollte in dem nordsyrischen Spannungsgebiet für Ruhe sorgen. Jetzt steht der Verdacht im Raum, dass Dutzende türkische Soldaten Opfer der russischen Luftwaffe wurden. In dieser Situation besinnt sich Staatschef Erdogan wieder auf die Nato, die er vor den Kopf gestoßen hat. Ein Tiefpunkt war der Kauf eines russischen Abwehrsystems durch Ankara. Schon deshalb ist es richtig und wichtig, dass sich das Verteidigungsbündnis in Zurückhaltung übt. Von einem Bündnisfall kann ohnehin keine Rede sein, da die Türkei nicht auf eigenem Staatsgebiet angegriffen wurde. Doch was, wenn Erdogan eine Grenzöffnung als Druckmittel nutzt, um die Hilfe der Nato zu erzwingen? Immerhin leben in der Türkei schon fast vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Die Antwort darauf muss eine diplomatische Offensive der EU und vor allem Deutschlands sein. Schon bei ihrem Türkei-Besuch Ende Januar hatte Kanzlerin Merkel angesichts der dramatischen Flüchtlingslage zusätzliche Finanzhilfen für Ankara in Aussicht gestellt. Genau das wird nun notwendig werden. Um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, muss aber auch Griechenland deutlich mehr internationale Unterstützung bekommen. Die dramatischen Bilder von Flüchtlingslagern auf den griechischen Ägäis-Inseln zeigen, dass Athen schon jetzt mit der Situation überfordert ist.

Der Schlüssel für eine Deeskalation der gefährlichen Situation in Nordsyrien liegt allerdings in Moskau. Ohne den Beistand Russlands wäre Assad nicht überlebensfähig. Es ist gut, dass sich Merkel und Frankreichs Präsident Macron um ein Treffen mit Erdogan und Putin zur Lage in Idlib bemühen. Falls der russische Präsident hier destruktiv bleibt, sollte der Westen die Daumenschrauben anziehen. Wegen des Konflikts in der Ostukraine hat die EU Wirtschaftssanktionen gegenüber Moskau verhängt. Diese Praxis ließe sich ausweiten. Die humanitäre Katstrophe in Nordsyrien schreit geradezu nach wirksamen Gegenmaßnahmen.

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