Leitartikel Sexualisierte Gewalt ist Dauerbrenner in Deutschland

Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen der Mediengesellschaft, das ein Ereignis plötzlich schier erdrückende Bedeutung erlangt, um kurze Zeit später wieder nahezu komplett in der Versenkung zu verschwinden.

 Stefan Vetter

Stefan Vetter

Foto: SZ/Robby Lorenz

Und was nicht oder kaum mehr berichtet wird, hat nach dieser Regel auch nicht oder fast nicht stattgefunden. Vielleicht war es auch dieser Umstand, der den Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, gestern zu einem dramatischen Appell veranlasst hat: Schaut endlich hin, denn die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist leider ein Dauerbrenner in Deutschland! Dabei liegt der Anlass des öffentlichen Anstoßes, der Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg, nun schon zehn Jahre zurück.

Sicher ist es nicht so, dass sich seitdem gar nichts getan hätte. Zwischenzeitlich haben sich Opfer organisiert, trat zum Beispiel das Bundekinderschutzgesetz in Kraft, wurde die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ ins Leben gerufen. Und seit kurzem haben es potenzielle Kinderschänder schwerer, ihre Verbrechen im Netz auszuleben. Doch für die breite Öffentlichkeit dürfte das Problem wohl in erster Linie ein Problem der Kirche geblieben sein. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass einschlägige Kirchenakten bis heute unter Verschluss gehalten werden und die von Missbrauch durch kirchliche Mitarbeiter Betroffenen immer noch auf eine angemessene Entschädigung warten.

Ist das schon schlimm genug, so ist die Dimension des Problems allerdings noch deutlich größer. Untersuchungen zufolge findet sexueller Missbrauch von Kindern am häufigsten innerhalb der Familie und im weiteren Bekanntenkreis statt. Abgesehen vom Internet ist der Missbrauch durch Fremdtäter eher die Ausnahme. Dafür muss die Gesellschaft zweifellos noch viel stärker sensibilisiert werden. Und auch die Politik. Wenn es etwa um den sexuellen Kinderschutz im Netz geht, dann wird häufig über den Datenschutz debattiert. Als ob das eine über dem anderen steht. Die Parteien legen den Fokus ebenfalls viel zu selten auf den Kindesmissbrauch. Rörig ging in seinen Forderungen sogar so weit, das bedrückende Thema müsse Gegenstand von Ansprachen des Bundespräsidenten werden. Ja, warum eigentlich nicht?

Derzeit fehlt es bei der Missbrauchsbekämpfung aber schon am Allernötigsten. Es gibt zu wenige Beratungsstellen, die zudem auch noch unterfinanziert sind. Überhaupt zeigt sich der Staat hier unverständlicherweise sehr knauserig. Fünf Millionen Euro pro Jahr veranschlagt der Missbrauchsbeauftragte für eine bundesweite Informations- und Aufklärungskampagne. Gemessen am Umfang des Bundeshaushalts ist das ein Kleckerbetrag. Doch nicht einmal dazu konnte sich die Bundesregierung bislang durchringen. Wenn sich diese Einstellung nicht grundlegend ändert, wird die Bilanz des Missbrauchsbeauftragten in fünf oder zehn Jahren genauso verheerend ausfallen wie jetzt.

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