Leitartikel Die SPD, Nawalny und das falsche Schweigen
Etwas sehr Wichtiges hätte die SPD beim Mauerfall lernen können – auch für heute, für den Fall Nawalny. Nämlich, dass es zwar richtig ist, mit Diktatoren zu sprechen. Dass man darüber aber nie schweigen darf, wenn Menschenrechte verletzt werden.
Eine Partei, die selbst eine lange Geschichte der politischen Verfolgung hinter sich hat, sollte das eigentlich verinnerlicht haben. Doch 1989 war die SPD vor lauter „Wandel durch Annäherung“ kalt geworden gegenüber der Unterdrückung durch SED und Stasi. Es gab sogar Sozialdemokraten, die sich mit führenden SED-„Genossen“ duzten.
Heute heißt so einer Gerhard Schröder. Der 76-Jährige kassiert bei Rosneft und Nord Stream 2 russisches Schweigegeld. Zur brutalen Unterdrückung völlig friedlicher Proteste will er nichts sagen, der Mordversuch an Nawalny entlockt ihm kein Wort des Bedauerns, stattdessen die Warnung vor „Russland-Bashing“. Schröder ist inzwischen eine Schande für die SPD – und als Altkanzler auch für Deutschland.
Die Gleichsetzung von Kritik an Putins korrupter Gewaltherrschaft mit Kritik an Russland hat in der SPD (und auch in der Linkspartei) allerdings System, weit über Schröder hinaus. Diesen Mechanismus benutzt übrigens auch der Kreml, wenn er vor einer Einmischung in „innere Angelegenheiten“ warnt. Wer die herrschende Clique kritisiert, greift die russische Nation an – so sähen es die Machthaber gern.
Der Willkür-Prozess am Dienstag gegen Nawalny war ein erneuter Tiefpunkt. Eine zynische Anklage, die dem Opfer des staatlich gelenkten Giftanschlags noch vorwarf, sich in der Zeit des Komas nicht gemeldet zu haben, eine hartes, von vornherein feststehendes Urteil. Und wichtige SPD-Politiker halten still. Es schweigt Manuela Schwesig, Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin, eine angebliche Hoffnungsträgerin der Partei. Sie sorgt sich lautstark um Nord Stream 2, nicht aber um Leben und Freiheit der Oppositionellen. Es schweigt auch Matthias Platzeck, Ex-Parteichef und Vorsitzender des deutsch-russischen Forums, der davor warnt, Russland „immer weiter in die Ecke zu treiben“. Dabei veranstaltet hier nur einer Treibjagden: Putin und seine Schlägertruppen gegen junge Demonstranten. Und kein Wort der Kritik von der aktuellen Partei- und Fraktionsführung, geschweige denn, dass sie nach Konsequenzen für die guten Gas-Geschäfte riefe. Spätestens nach dem Willkürurteil gegen Nawalny müsste sich das ändern.
Die aktuelle Russland-Politik der SPD ist, anders als ihre Protagonisten glauben, keine Fortsetzung der Brandtschen Ostpolitik, sondern ihre Pervertierung. Willy Brandt jedenfalls hat die Mauer und ihre Opfer nie vergessen. Man brauche die Partnerschaft mit Russland für den Frieden auf dem Kontinent, heißt es dann. Wohl wahr. Aber man darf deshalb nicht seine Grundwerte verschweigen. Die Freiheit wird sich irgendwann Bahn brechen. Das hat sich 1989 gezeigt, das wird sich auch im Fall Russlands zeigen. Besser für die SPD, wenn sie sich diesmal rechtzeitig auf die richtige Seite stellt.