Leitartikel Erdogans politische Kehrtwenden und die Nato

Türkische Kampfflugzeuge greifen im Irak an, türkische Soldaten besetzen Teile von Syrien, türkische Schiffe bringen Waffen nach Libyen: Die Nato habe ein „Türkei-Problem“, sagt Frankreich und fordert eine Debatte in der Allianz über das Verhalten Ankaras.

Leitartikel: Die Nato und Erdogans politische Kehrtwenden
Foto: SZ/Robby Lorenz

Tatsächlich kümmert sich die Türkei wenig um die Interessen anderer Bündnispartner. Auch im Nahen Osten bringt die Türkei andere Länder gegen sich auf. Diese Probleme sind die Folge des türkischen Anspruchs auf eine Rolle als eigenständige Regionalmacht. Weder die Nato noch die EU haben bisher ein Rezept, um mit diesem neuen Selbstverständnis der Türkei umzugehen.

Im Kalten Krieg und mehr als ein Jahrzehnt danach herrschte in Ankara und im Westen gleichermaßen die traditionelle Vorstellung von der Türkei als Außenposten der Nato an der Grenze zu Russland, Zentralasien und dem Nahen Osten. Doch das hat sich grundlegend geändert. Unter Präsident Erdogan betrachtet sich die Türkei als eigenständiger Akteur, der mal mit der Nato und mal mit Russland zusammenarbeitet, so wie es ihm gerade ratsam erscheint. Das führt zu außenpolitischen Kehrtwenden, die man früher nicht von der Türkei gewohnt war. Im Jahr 2015 forderte Ankara die Solidarität der Nato-Verbündeten ein, nachdem die türkische Luftwaffe ein russisches Kriegsflugzeug an der syrischen Grenze abgeschossen hatte und Russland mit Konsequenzen drohte. Nur ein Jahr später begann eine enge Zusammenarbeit von Türkei und Russland in Syrien. Inzwischen liegt die Türkei mit den meisten Nachbarn und vielen Verbündeten im Clinch. Tausende türkischer Soldaten sind in Nord-Syrien stationiert, wo inzwischen sogar die türkische Lira als Währung eingeführt wird, türkische Kampfjets bombardieren mutmaßliche Stellungen der kurdischen Terrororganisation PKK beim Nachbarn Irak. Mit den USA gibt es Krach wegen der Syrien-Politik. In Libyen unterstützt die Türkei die Einheitsregierung in Tripolis mit Waffen, Militärberatern und syrischen Kämpfern.

Aber das eigentliche Problem für die Türkei ist die politische Vereinsamung durch immer neue Alleingänge. Das Land hat im Nahen Osten außer Katar keine Freunde mehr. In Europa steht Ankara spätestens seit der Grenzöffnung für Flüchtlinge im März ebenfalls allein da. Dabei braucht die Türkei nicht zuletzt wegen ihrer vom Export und Tourismus abhängigen Wirtschaft offene Märkte und gute Beziehungen mit möglichst vielen Ländern. So fordert Ankara eine Ausweitung der Zollunion mit der EU – stößt aber gleichzeitig EU-Staaten wie Griechenland, Zypern und Frankreich vor den Kopf.

Erdogan ist Pragmatiker genug, um taktische Kompromisse in der einen oder anderen Frage einzugehen. Doch an der generellen Ausrichtung der türkischen Außenpolitik mit ihrem Regionalmachtsanspruch, ihrer Bereitschaft zu militärischen Einzelaktionen und ihrem schroffen Stil wird sich so schnell nichts ändern. Das wird früher oder später dauerhafte Folgen für die türkischen Beziehungen zur Nato und zur EU haben. Das „Türkei-Problem“ für den Westen hat gerade erst begonnen.

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