Leitartikel Die Europäische Union muss endlich Stärke zeigen

Sofagate“ ist keine Kleinigkeit, sondern ein Eklat. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen wurden hohe Repräsentanten der EU bei  (Staats-)Besuchen öffentlich brüskiert. Und dieses Mal hat mit der Person des EU-Ratspräsidenten sogar einer der höchsten Repräsentanten der Gemeinschaft nichts dagegen getan.

 Kommentarkopf, Fotos: Juha Roininen

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Foto: SZ/Lorenz, Robby

Charles Michel stand, wie vor wenigen Wochen Josep Borrell als Außenbeauftragter in Moskau, wie ein begossener Pudel daneben, während die Gastgeber ihre Missachtung der Union durchziehen konnten. Deutlicher kann man das schwindende Gewicht der EU nicht dokumentieren. In Moskau und nun in Ankara demonstrierten die dortigen Staatsspitzen, für wie schwach sie die Emissäre aus Brüssel halten. Das ist vor allem im Fall der Türkei völlig unverständlich, denn das Land ist auf die Partnerschaft mit der Union angewiesen. Das Angebot, das von der Leyen und Michel im Gepäck hatten, entsprach ganz dem, was sich die Menschen am Bosporus so sehr erhoffen: eine enge Anbindung an die Gemeinschaft. Doch die stellt Bedingungen in Sachen Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte. Und sie wird von einer Frau an der Spitze der Kommission vertreten. Das schien Erdogan Grund genug zu sein, um nach der Kündigung der Charta der Frauenrechte einen weiteren Beweis dafür zu liefern, wie weit sein Land von einer modernen Demokratie entfernt ist.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ratspräsident Michel kamen im Auftrag der europäischen Staats- und Regierungschefs nach Ankara. Denn die sind es, die im Juni entscheiden wollen, ob es wirklich einen Frühling in den beiderseitigen Beziehungen geben kann. Bei diesem Besuch sollte ein Prozess in Gang kommen, hatten die Brüsseler Experten doch erste Anzeichen dafür ausgemacht, dass sich Erdogan wieder auf Europa zubewegt. Es war ein Irrtum. Der Präsident hatte gehofft, die Union werde auf ihre „lästigen“ Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit verzichten, nachdem er Syrien-Flüchtlinge Richtung Westen hatte ziehen lassen und so für neue Unmenschlichkeiten an den Übergängen in die EU gesorgt hatte. Doch die Union ist nicht bereit zurückzustecken. Falls Erdogan die Kommissionschefin dafür bestrafen und sie sowie Michel provozieren wollte, hat er zwar einen propagandistischen Erfolg erzielt, aber tatsächlich eine ziemliche Dummheit begangen.

Die EU-Staaten geben außenpolitisch kein überzeugendes Bild ab. Das stimmt. Dies macht es Politikern wie Erdogan oder dem russischen Präsidenten Wladimir Putin leicht, auf eine schleichende Zersetzung der Gemeinschaft hinzuarbeiten. Die Äußerung des russischen Außenministers Sergei Lawrow, die EU nicht mehr als Verhandlungspartner anzuerkennen, hat der türkische Staatspräsident zwar nicht wiederholt, wohl aber praktiziert. Es ist befremdlich, dass derartige Umgangsformen von den EU-Staats- und -Regierungschefs bisher nahezu kommentarlos hingenommen werden. Die Vorfälle von Moskau und Ankara zeigen, was der EU droht, wenn sie es bei bloßen Lippenbekenntnissen belässt und ihre viel geforderte Stärke nicht endlich findet – und einfordert.

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