Leitartikel Organe fallen nicht vom Himmel

Zahlen liefern leider keine Erklärungen. Deshalb lässt sich nur mutmaßen, warum sich die Organspende-Zahlen 2018 derart massiv – um 20 Prozent – nach oben bewegt haben.

Kommentar zu neuen Zahlen zur Organspende
Foto: SZ/Robby Lorenz

An den Rahmenbedingungen in den Kliniken, die sich erst 2019 verbessern sollen, kann es nicht liegen. Auch nicht an einer sprunghaft erhöhten Spendebereitschaft der Deutschen. Denn seit Jahren befürworten über 70 Prozent die Organspende. Nein, es dürfte wohl tatsächlich an der erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit liegen, die sich 2018 einstellte, nach der Schockbotschaft, die Spendebereitschaft sei auf einem historischen Tiefstand.

Alarmsignale und Hilferufe flogen durchs Land. Man hält es kaum mehr für möglich, aber sie wurden tatsächlich gehört in unserer von Erregungswellen durchrüttelten Gesellschaft. Medien und Politiker stiegen massiv ins Thema ein – und aktivierten offensichtlich das, was viele Experten jenseits jeder Gesetzes- oder Klinikreform für den Generalschlüssel zum Problem halten: das kollektive Bewusstsein. Denn es ist wohl so, in unserer Gesellschaft fehlt eine Denk- und Gefühlskultur, die Angehörige, Ärzte und Transplantationspatienten in ihrer Extremsituation wahrnimmt und sie wertschätzt.

Aber Organe fallen nicht vom Himmel, sie sind ein kostbares Gut, das gesamtgesellschaftlich erarbeitet werden muss – durch Information, Empathie, Aufklärung, Geld. Jawohl, Geld hilft auch. Die 35 Millionen Euro, die ab Sommer 2019 durch das „Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende“ in die Kliniken fließen, um dort den Betreuungs-Mehraufwand abzufedern, der sich im Zuge einer Organspende ergibt, dürfte einen weiteren Aufwärtsschub für die Zahlen bringen. Wobei Kieler Forscher vor Euphorie warnen. Sie sehen den Hauptgrund für nicht erfolgte Organspenden in der inneren Haltung der Kliniken. Es fehle der Ehrgeiz. Niemand werde bestraft oder belobigt, ob er nun viele oder wenige potentielle Spender melde. Transparenz und eine Klinikrangliste könnten hilfreich sein. Angedacht ist so etwas bislang noch nirgends. 

Wie es aussieht, werden die Zahlen also noch eine Weile nicht wieder auf dem hohen Niveau landen, das vor zehn Jahren noch selbstverständlich war, bei etwa 1200 Spendern jährlich. Deshalb gilt es, an jedem nur möglichen Schräubchen zu drehen, das eine Verbesserung bringen könnte. Auch an der bisher geltenden Zustimmungslösung, die in allen Ländern, also auch in Deutschland, zu markant weniger Organspenden führt als in Ländern mit Widerspruchslösung. Dass der Gesundheitsminister letztere einführen will, darf man kritisch sehen, weil sie das Selbstbestimmungsrecht berührt. Hauptsache aber, man denkt überhaupt darüber nach. Stimmt die Ursachen­analyse der jetzt veröffentlichten Zahlen, dann muss man allein die Tatsache loben, dass Jens Spahn das heiße ethische Eisen überhaupt anpackt und dadurch zu einer breiten Debatte einlädt. Denn jedes Wort, jedes Argument mehr arbeitet gegen das, was die Organspende womöglich am meisten behindert: Bequemlichkeit und Ignoranz.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort