Leitartikel Ein Erfolg für Macron, aber noch kein Ende der Krise

Eine Regel in der Paartherapie lautet: Reden hilft! Wenn zwei Partner seit Jahrzehnten unter einem Dach leben, sich aber nichts mehr zu sagen haben, ist eines der ersten Ziele, eine gemeinsame Sprache zu finden.

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Foto: SZ/Lorenz Robby

In diesem Sinne hat Emmanuel Macron sich und sein Land einer großen Therapiesitzung unterzogen. Im Laufe des Bürgerdialogs, den der Staatspräsident angestoßen hat, wurden weit über 10 000 Versammlungen in ganz Frankreich abgehalten. Auf einem eigens eingerichteten Onlineportal wurden rund zwei Millionen Vorschläge abgegeben, wie das Land reformiert werden könnte. Nicht nur politisch ein gewaltiges Projekt.

Immer wieder stand Macron auch selbst Rede und Antwort. Stundenlang hörte er sich geduldig die Sorgen der Bürger an und antwortete auf jede Frage. In der Grand Débat zeigte Macron seine Qualitäten als Kämpfer. Fakt ist: Der Präsident konnte den monatelangen Protesten der Gelbwesten die Wucht nehmen, die ihn und seine Regierung in eine schwere Krise gestürzt haben.

Der Bürgerdialog ist ein großer Erfolg, den selbst die größten Optimisten nicht zu erhoffen gewagt hatten. Der angeschlagene Staatschef kann also zufrieden sein, ausruhen kann er sich allerdings nicht. Denn Macron dürfte klar sein, dass er sich allenfalls etwas Luft verschafft hat. Die aktuelle Krise ist nicht gebannt. Im Gegenteil: Mit der Grand Débat hat der Präsident große Erwartungen geweckt. Das zornige Volk erwartet vom Präsidenten nun konkrete Schritte, die unmittelbar eine positive Veränderung im alltäglichen Leben bedeuten. Ganz oben auf der Agenda stehen Steuersenkungen. Das Problem: Das wird viel Geld kosten, doch gleichzeitig ist der finanzielle Spielraum Macrons sehr begrenzt.

Die erste Wut vieler Demonstranten konnte der Staatschef zu Beginn der Gilets-Jaunes-Proteste mit Steuergeschenken besänftigen. Das hat den klammen Staatssäckel mit vielen Milliarden Euro belastet. Ein zweites Mal wird das nicht möglich sein, daran werden ihn auch seine Kollegen in der EU erinnern. Schon jetzt liegt das Staatsdefizit im laufenden Jahr über der Maastrichter Marke von drei Prozent der Wirtschaftsleistung. So kann die Ankündigung von Édouard Philippe nicht überraschen. Der Premierminister stellte gestern in seinem ersten Fazit zur Grand Débat zwar Steuersenkungen in Aussicht. Er blieb aber vage und machte die Rechnung auf, dass dann auch die öffentlichen Ausgaben reduziert werden müssten. Das heißt, dass es auch Verlierer geben wird. Ob die Franzosen das klaglos akzeptieren, ist mehr als fraglich.

So könnte das Aufatmen nach der Grand Débat für Macron nur die Ruhe vor dem wirklich großen Sturm sein. Dann nämlich, wenn das Volk nach dieser nationalen Therapiesitzung enttäuscht zu der Erkenntnis kommt, dass der aktuelle Partner außer salbungsvollen Worten nicht viel mehr zu bieten hat. Ein Auflodern der Proteste wäre die Folge. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Paartherapie in einer schmutzigen Scheidung endet.

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