Jahresrückblick 2019 Nabelschau statt Inhalte – ein vertanes Politik-Jahr

Im politischen Jahresrückblick für Deutschland dominieren: Rücktritte. Intrigen. Führungskrisen. Nahles, AKK, Merkel. Aber nicht: Beschlüsse. Gesetze. Weichenstellungen. Es war wieder ein vertanes Jahr.

Werner Kolhoff

Werner Kolhoff

Foto: SZ/Robby Lorenz

Grob gesagt lässt sich die bisherige Arbeit der Groko so zusammenfassen: 2018 war die neue Regierung blockiert, weil die CSU und Horst Seehofer ein Selbstfindungsproblem hatten. Außerdem, weil die CDU plötzlich die Nachfolge Angela Merkels als Parteichefin regeln musste. Sie fand zwar Annegret Kramp-Karrenbauer, ließ aber mit Friedrich Merz einen Mann zurück, der sich als Vorsitzender der Herzen empfindet und nicht Ruhe gibt. Es kam das zweite Jahr, 2019. Nun hatte die SPD ein starkes Selbstfindungsproblem, was nicht nur zum Rücktritt der Vorsitzenden Andrea Nahles führte, sondern auch zu einer sechs Monate (!) dauernden Suchphase für ihre Nachfolge. Gefunden wurden zwei Amateure, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Und die CDU versuchte 2019 zu klären, ob AKK auch die richtige Kanzlerkandidatin wäre. Ergebnis: Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Das ist keine Karikatur deutscher Politik, das ist die Realität. Selbstbeschäftigung, Nabelschau, Machtkämpfe. Wer demgegenüber nach Inhalten schaut, findet wenig. Die Grundrente: verwässert und trotzdem nicht verabschiedet. Obwohl die Altersarmut zunimmt. Das Klimaschutzpaket: so schwach, dass es nachverhandelt werden musste. Und immer noch nicht taugt. Die Außenpolitik: zaudern, zögern und zagen gegenüber den Diktaturen in China, Russland und der Türkei. Keine Strategie. Europa: kein Schulterschluss mit Emmanuel Macron und kein Schimmer, wie das Verhältnis zu Großbritannien nach dem Brexit werden soll. Handel: Bibbern vor Trumps Sanktionspolitik. Aber kaum eigene Handlungsmöglichkeiten. Technologie: Die Schlüsselbranche Auto fällt zurück, KI und IT holen nicht auf.

Und so weiter. Man kann die Liste der Versäumnisse 2019 lang machen. Gar keine Lichtblicke? Doch. Das Bewusstsein über das, was eigentlich notwendig wäre, ist auf allen Ebenen gewachsen. Es gibt kein Erkenntnisproblem mehr, in keinem Bereich. Und wo es das gab, haben Bürgerproteste wie Fridays for Future nachgeholfen. Es gibt nur ein Problem der Ängstlichkeit, der mangelnden Konzentration auf das Wesentliche, der politischen Zersplitterung, des Einknickens vor Lobbyisten und manchmal auch der Gedankenfaulheit. 2019 ist die Kluft zwischen den sachlichen Notwendigkeiten hier und den Fähigkeiten der politischen Führung da tiefer geworden.

So gesehen kann 2020 nur besser werden. Es stehen außer in Hamburg keine Landtagswahlen an, wahrscheinlich auch keine vorgezogenen Bundestagswahlen. Keine Personalie muss geklärt werden. Eigentlich kann die große Koalition zwölf Monate ruhig arbeiten und auch mutige Entscheidungen treffen. Denn die Mehrheit hat sie. Noch. Angela Merkel sollte ihre Minister und die beteiligten Parteien dazu einladen, diese Chance konzentriert zu nutzen.

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