Leitartikel Ein Vertrag wider die nationalistische Seuche

Einen schönen Beweis, warum ein deutsch-französischer Vertrag auch 2019 noch (oder gerade jetzt) sinnvoll ist, lieferten dieser Tage seine Gegner. Damit wolle Deutschland nur wieder Vormundschaft über das Elsass erringen, giftete die französische Nationalistin Marine Le Pen.

Élysée 2.0: Ein Vertrag wider die nationalistische Seuche
Foto: SZ/Roby Lorenz

Und auf der anderen Seite des Rheins hieß es bei der AfD: Damit wolle Frankreich den Deutschen nur in die Taschen greifen. Es ist die Sprache von anno dunnemals. Das alte Misstrauen, der alte Hass.

Die Neufassung des Élysée-Vertrages von 1963 ist deshalb auch eine Art Not-Hochzeit. Schnell noch geschlossen, bevor solche Leute die Stimmung ganz dominieren – oder gar Macht bekommen. Vielleicht hat dieser Hintergrund auch die Art der Formulierung und Verabschiedung diktiert. Besonders souverän mutet es jedenfalls nicht an, dass man einem ähnlichen Abkommen der beiden Parlamente nicht den Vorrang gelassen hat und sich als Regierung vordrängelte. Und ebenso nicht, wie über die Unterzeichnungszeremonie entschieden wurde. Nämlich ziemlich einsam von den beiden Regierungschefs Macron und Merkel, die sich in Aachen inszenierten. Überhaupt war der ganze Prozess wenig offen. Dabei hätte eine breite Beteiligung gerade bei diesem Vertrag dazugehören müssen. Denn die deutsch-französische Freundschaft ist in der Bevölkerung längst tief verankert.

An dem neuen Vertragstext erstaunt, was auch nach 56 Jahren intensivster Beziehungen alles noch verbessert werden kann, was es also bisher nicht oder nur unzureichend gab. Gemeinsame Verteidigungsstrategien etwa oder die Abstimmung der Außenpolitik. Ausbau der gegenseitigen Sprachangebote und Anerkennung von Schulabschlüssen. Erleichterte grenzüberschreitende Projekte auch in der Infrastruktur. Schließlich: Rechtsharmonisierung für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Darauf hätte man eigentlich auch früher kommen können.

Das alles bedeutet nicht die Aufgabe von nationalen Grenzen und Identitäten, da mögen die Rechten noch so zetern. Es bedeutet im Gegenteil Sicherheit und kulturelle Bereicherung. Der Vertrag macht aus diesem Teil Europas ein Stück mehr ein gemeinsames Haus. Einzelhäuser mit hohen Zäunen und „Hier wache ich“-Schildern, die sich die Nationalisten wünschen, sind nicht die Vision. Deutschland-Frankreich, das ähnelt künftig noch mehr einer Wohngemeinschaft, in der jeder zwar sein eigenes Zimmer hat, in der man aber kooperativ und rücksichtsvoll miteinander lebt. Anders hat die Völkergemeinschaft auch global keine Zukunft.

Was man einzig bemängeln muss, ist, dass sich beide Nationen nicht verpflichten, solche Vereinbarungen auch mit ihren jeweiligen weiteren Nachbarn anzustreben. Deutschland zum Beispiel mit Polen. Wenn in einer Wohngemeinschaft nur zwei eng zusammenleben, erzeugt das eher Misstrauen. Die deutsch-französische Art von Nachbarschaft und Verflechtung sollte Standard werden in Europa. Denn ein besseres Mittel gegen Nationalisten als die Praxis friedlichen Zusammenlebens gibt es nicht.

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