Die Corona-Krise und die Zahlen Viele Zahlen, viele Fragen, viele Unsicherheiten

Morgen treffen sich wieder die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten. Und sie werden, das ist abzusehen, gemeinsam keine größeren Lockerungen bekannt geben. Einerseits mit Verweis darauf, dass die Auswirkungen der Geschäftsöffnungen erst abgewartet werden müssen – was richtig ist.

 Thomas Roth

Thomas Roth

Foto: SZ/Robby Lorenz

Andererseits mit Verweis auf den R-Wert, die sogenannte Reproduktionszahl, mit der angegeben wird, wie viele Menschen ein Corona-Infizierter durchschnittlich ansteckt – was zumindest sehr diskussionswürdig ist.

Diesen R-Wert brachte die Kanzlerin als neue wichtigste Größe in die Diskussion ein, nachdem sie zuvor stets die Verdopplungszeit – also wie schnell die Zahl der Infizierten aufs Zweifache wächst – als entscheidenden Faktor genannt hatte. Auf den ersten Blick nachvollziehbar: Denn ist R größer 1, steigt die Zahl der derzeit Infizierten. Ist R kleiner, nimmt sie ab.

Allerdings: Wie R berechnet wird, dazu gibt es unterschiedliche Ansätze. Vorgestern spätabends verkündete etwa das Robert-Koch-Institut (RKI), der R-Wert sei wieder gestiegen, von 0,9 auf 1 – und so mancher sah die schlimmsten Erwartungen bestätigt. Die Lockerungen würden zu einer neuen Welle von Infektionen führen.

Aber: Es lohnt sich, genauer auf die Zahlen zu schauen: R ist am Montag auf 0,96 gestiegen, die 1 ist schlichtweg die aufgerundete Zahl für die Öffentlichkeit. Es reicht theoretisch eine minimale Verschiebung um 0,01 Punkte, um die bedrohliche 1 auftauchen zu lassen. Zweitens schauen Statistiker Intervalle an. Verkürzt, unwissenschaftlich und vereinfacht erklärt: Das RKI gibt an, dass der R-Wert zu 95 Prozent zwischen 0,8 und 1,1 liegt – am Sonntag und am Montag. Eine bemerkenswerte Veränderung hatte es schlichtweg nicht gegeben.

Für das RKI der Super-Gau in Sachen Krisen-PR: Während gestern früh Präsident Lothar Wieler über die Steigerung auf 1,0 sinnierte, rechneten seine Mitarbeiter im eigenen Haus schon aus, wie der neue R-Wert aussehen wird. Das Ergebnis: Seit gestern Nachmittag ist R wieder auf 0,9. Noch bemerkenswerter: Das Intervall liegt zwischen 0,7 und 1. Insgesamt stehen wir also besser da als vor zwei Tagen!

Das sind Ihnen alles zu viele Zahlen? Ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht ersparen. Es lohnt sich darauf zu blicken, wie außer­halb des RKI dieser R-Wert berechnet wird: Experten der TU Ilmenau und eine niedersächsische Forschergruppe mit Vertretern des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung etwa kommen in den vergangenen Wochen auf niedrigere Werte als das RKI. Sie erinnern sich: Die Helmholtz-Vertreter plädierten vor kurzem noch dafür, zunächst keinerlei Lockerungen zuzulassen. Eines sind sie also sicher nicht: Wirtschaftslobbyisten. Diese Forscher aus Niedersachsen gehen etwa derzeit von einem R-Wert von 0,7 aus. Und sie rechnen R-Werte für Regionen aus: Das wäre nun wirklich eine Kenngröße, mit der sich der Kampf gegen das Coronavirus gut beschreiben lässt. Falls es Sie interessiert: Diese Werte liegen für Rheinland-Pfalz bei unter 0,6, für das Saarland bei 0,6. Und zugegeben: Ebenso wie beim RKI wird hier mit Schätzungen und Annahmen gerechnet. Es gibt keine absolute Sicherheit.

Wer ist näher an den reellen Zahlen? Das wird sich möglicherweise erst in Wochen zeigen. Eines ist aber offensichtlich: Nachdem das Robert-Koch-Institut die Pandemie zunächst unterschätzt hatte, ist es nun zur Linie der absoluten Vorsicht übergegangen. Und es ist damit eine Behörde, die die Politik der strengen Maßnahmen unterstützt. Das ist an sich nicht problematisch. Folgendes aber schon: Das RKI lässt zurzeit vor allem viele Fragen offen und verwirrt durch unterschiedliche Zahlen, die es nicht ausreichend erklärt.

Immerhin: Lothar Wieler betonte gestern, dass R alleine nicht entscheidend zur Bewertung des Erfolgs sei. Dies umso mehr, wenn die Infizierten- und Fallzahlen insgesamt niedrig sind. Dann kommt es weniger auf die Reproduktionszahl an, sondern auf etwas Anderes: Können die Gesundheitsämter die Kontakte der Infizierten verfolgen? Und falls die Zahlen doch steigen: Gibt es in unseren Kliniken genügend Plätze und Personal zur Behandlung der Kranken?

Das Gute daran ist: Auf beide Fragen lautet die Antwort Ja – und es gibt derzeit keinen Grund anzunehmen, dass sich dies schnell ändert. Ob dies die Politiker morgen ebenso offen verkünden? Oder geht es doch eher im Stil der Warner weiter, eventuell sogar mit neuen Zahlen? Ich bin mir sicher: Wir sind bereit für eine neue Art der Kommunikation zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern: ernsthaft und auf Augenhöhe. Gerne mit allen Hinweisen auf die Gefahren, aber bitte nicht mit Panikmache.

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