Leitartikel Recht haben ist keine Kategorie fürs Sterben
Angeschlossen an Maschinen überleben Koma-Patienten nicht selten Jahrzehnte. Wie Vincent Lambert. Ein jahrelanger juristischer Kampf ging seinem gestrigen Tod voraus.
Auf Antrag seiner Ehefrau ließen ihn die Ärzte jetzt sterben. Wer diese Formulierung wählt, hat sich bereits positioniert. Auf der Seite derer, die für die Patientenfreiheit eintreten und sich in Deutschland dafür auf das Grundgesetz berufen. Andere sprechen von Ermordung, gar von Euthanasie. Wobei sich das verbietet, weil die meisten Menschen Euthanasie mit der NS-Zeit assoziieren, was die komplexe Diskussion um Sterbehilfe auf ein schlimmes polemisches Niveau hinabzerrt. Dafür ist sie zu kostbar. Doch es passiert immer wieder, egal, ob in Belgien die aktive Sterbehilfe für minderjährige Kinder erwogen wird oder ob in Deutschland ein neuer Paragraf ins Strafgesetz kommt, gegen „gewerbemäßige Sterbehilfe“.
Aggressionen auf den jeweils Andersdenkenden helfen vermutlich über eine Ohnmachtserfahrung hinweg: Fälle wie die von Lambert überfordern jeden Einzelnen und auch den Staat. Insofern ist die gestrige Reaktion der französischen Bischöfe womöglich die angemessenste: tiefe Traurigkeit. Denn der Meinungskrieg zerriss die Familie Lambert, verdoppelte die Tragödie, die mit Lamberts Unfall einherging. Zurück bleiben ausschließlich Verlierer, auch auf nationalem Feld. Denn recht hatten sie eigentlich alle. Die Anhänger der gläubigen Eltern, die Gott als einzige Instanz ansehen, die über Leben und Tod richten darf. Die Unterstützer von Ehefrau und Geschwistern, die die Umsetzung von Lamberts vermeintlichem Patientenwillen als letzten Liebesbeweis betrachten. Die Ärzte, die darauf pochten, Koma-Patienten nie aufzugeben, weil der Krankheitsverlauf unvorhersagbar ist. Rechtsethiker, die davor warnten, mit der Kategorie eines angeblich nicht mehr lebenswerten Lebens zu argumentieren. Sogar die Kirchen, die das selbstbestimmte Sterben als Sünde einstufen, haben aus ihrer Sicht recht.
Doch für den Staat dürfen weder die Bibel noch rational begründbare Überzeugungen bestimmter Interessengruppen ein Maßstab sein. Er muss einen Rechtsrahmen finden, selbst für existenzielle Grenzfragen. Die tauchen dank einer fortschreitenden Geräte- und Gen-Medizin nicht nur immer häufiger auf, sondern werden auch immer komplizierter. So müssen wir aushalten, dass Streitfälle jahrelang durch die Instanzen wandern, man erinnere sich 2005 an den ähnlich gelagerten Fall von Terri Schiavo.
Frustrierend ist freilich die Erkenntnis, dass solcherart Prozesse nicht in einen allseits akzeptierten Rechtsfrieden münden. Woraus man folgende Lehre ziehen sollte: Die Verrechtlichung von Leben und Sterben bringt uns nicht wirklich weiter. Wo liegt der Ausweg? Es gibt keinen, und das ist gut so. Weil jeder Einzelfall die Öffentlichkeit in eine zutiefst menschliche Debatte verstrickt, die günstigstenfalls nicht nur Gefühle aufpeitscht, sondern individuelles Nachdenken anstößt. Das führt uns dann auf die wahre letzte Instanz zurück, die weder Staat noch Gott heißt. Es ist das eigene Gewissen.