Leitartikel Widersprüchliche Bilanz der neuen CDU-Chefin

Die Bilanz der ersten 100 Tage von Annegret Kramp-Karrenbauer als Vorsitzende der CDU Deutschlands ist widersprüchlich. Auf der Gewinn- und auf der Verlustseite sind jeweils hohe Ausschläge zu verzeichnen.

 Peter Stefan Herbst

Peter Stefan Herbst

Foto: SZ/Robby Lorenz

Einerseits hat die Nachfolgerin von Angela Merkel durch geschicktes Vorgehen die eigene Partei unerwartet schnell hinter sich versammelt, Geschlossenheit erreicht und wichtige Politikfelder besetzt, obwohl sie weder der Bundesregierung noch dem Bundestag angehört. Andererseits macht sie sich durch ungeschickte Formulierungen – wie zuletzt beim Stockacher Narrengericht – angreifbar und gefährdet damit ihre Akzeptanz in einem breiten Teil der Öffentlichkeit, zu der auch das Spitzenpersonal und die Parteimitglieder möglicher Koalitionspartner gehören. Auch wenn die Kritik an ihrem Kalauer überzogen war, sind solche Ausrutscher gefährlich.

Nach ihrem knappen Wahlergebnis auf dem Bundesparteitag dürften viele Anhänger ihrer Mitbewerber Friedrich Merz und Jens Spahn überrascht sein, dass sie so schnell auf einen Stammplatz in der Fankurve der neuen Vorsitzenden gewechselt sind. Kramp-Karrenbauer hat mit dem „Werkstattgespräch“ zu Flüchtlingen und vielen kleinen Botschaften konsequent ihre konservative Seite ausgespielt, die sie als erste Innenministerin in Deutschland schon immer hatte.

Das Etikett der „Mini-Merkel“ oder „Kopie der Kanzlerin“ war noch nie richtig, obwohl es viele Parallelen zwischen Merkel und Kramp-Karrenbauer gibt. So wurden beide lange von eigenen Parteifreunden und dem politischen Gegner unterschätzt. Beide haben meist einen guten politischen Instinkt und ein starkes Machtbewusstsein. Doch anders als die pragmatische Kanzlerin lässt sich die neue CDU-Chefin viel stärker von Grundpositionen leiten. Je nach Thema sind es mal mehr christliche, liberale, soziale oder eben konservative Überzeugungen. Hier zeigt sich die ganze Bandbreite einer Volkspartei in einer Person. Dies ist Stärke und Schwäche zugleich. Intern hilft es, den Laden zusammenzuhalten. Nach außen sorgt es für Irritationen. Aber auch ihre heftig diskutierten Äußerungen zur Homo-Ehe oder dem dritten Geschlecht bringen ihr nicht nur scharfe Kritik ein, sondern auch Zustimmung bei denjenigen, denen die politische Korrektheit in Deutschland mittlerweile zu weit geht. Neben der Erkenntnis, dass die ständigen Streitereien der Union schwer geschadet haben, dürfte das ein Grund für ihr mittlerweile hohes Ansehen in der CSU und das deutlich verbesserte Verhältnis zur Schwesterpartei sein.

Das ausgerechnet die frühere saarländische Ministerpräsidentin dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron so Kontra gibt und Straßburg als Sitz des EU-Parlaments in Frage stellt, sorgt auch für Irritationen, kommt allerdings ebenfalls bei der Kern­klientel der Union gut an. Für die Geschlossenheit der CDU ist Kramp-Karrenbauer zweifellos ein Gewinn. Sie versteht die Partei besser als Merkel und erreicht neben den Köpfen vieler Mitglieder auch deren Herzen. Aber Wahlen entscheiden nicht nur die Parteimitglieder.

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