Leitartikel Begrenzte Reisesperren sind eine Rückkehr zur Vernunft

Ausreiseverbot. Der Begriff weckt ungute Erinnerungen. Vor allem bei ehemaligen DDR-Bürgern. So ist es auch nicht überraschend, dass sich vor allem Regierungschefs in Ostdeutschland gegen großflächige Reisebeschränkungen zur Wehr gesetzt haben, wie sie im Kanzleramt wegen der Corona-Pandemie erdacht worden waren.

Stefan Vetter

Stefan Vetter

Foto: SZ/Robby Lorenz

Dabei ist der Grundgedanke nicht von der Hand zu weisen: Reisende aus dem Kreis Gütersloh, der wegen der Corona-Ausbrüche beim örtlichen Fleischverarbeiter Tönnies zum Krisen-Hotspot avancierte, wurden an ihren Ostsee-Urlaubsorten abgewiesen und zur Umkehr gezwungen. Also macht es doch Sinn, erst einmal daheim zu bleiben, bis die Gefahr einer potenziellen Weiterverbreitung des Virus gebannt ist. Freilich muss dabei die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Auch das hätte man in der Berliner Regierungszentrale am Beispiel Gütersloh studieren können. Denn das zuständige Verwaltungsgericht hatte Anfang Juli den Lockdown für den gesamten Kreis als rechtswidrig eingestuft, die strengen Auflagen im Tönnies-Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück dagegen für vertretbar erklärt. Gezielte, effektive Gegenmaßnahmen auf lokaler Ebene statt großflächig geltende Verbote. Das war die Botschaft der Juristen. Eigentlich eine Blaupause für allgemeines Handeln. Insofern ist es unbegreiflich, dass Kanzlerin Angela Merkel eine Debatte laufen ließ, bei der einer Abriegelung ganzer Landkreise das Wort geredet wurde. Das dürfte viele Menschen verunsichert haben.

Nun hat das Verwirrspiel endlich ein Ende. Lokal und zeitlich eng begrenzte Ausgangssperren, so wurde es von Bund und Ländern beschlossen, kommen praktisch nur als letztes Mittel in Frage, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern. Eine vernünftige Entscheidung. Ähnlich lief es schon bei der im Juni verhängten Quarantäne über ein Hochhaus in Göttingen, in dem es einen massiven Ausbruch gegeben hatte. Hier ließ sich auch die Einhaltung der Restriktionen vergleichsweise einfach kontrollieren.

Wer auch das noch für übertrieben hält, sei daran erinnert, dass die Gefahr einer zweiten Welle längst nicht ausgestanden ist. Zwar liegt die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland auf erfreulich niedrigem Niveau, derzeit gibt es keinen einzigen Corona-Hotspot mehr. Das kann sich aber auch schnell wieder ändern. So galt etwa Israel anfänglich als Musterknabe im Kampf gegen die Pandemie. Doch zuletzt lag die Zahl der Neuinfektionen dort gut dreimal höher als in Deutschland, und das bei einer neunmal kleineren Einwohnerzahl. Ursache ist ganz offenkundig eine zu frühe und planlose Lockerung wirksamer Restriktionen gewesen. Daraus kann man nur lernen.

Lokale Einschränkungen sind auf jeden Fall die bessere Wahl, um Einschnitte in individuelle Freiheiten so gering wie möglich zu halten. Dazu gehört dann allerdings auch im Fall der Fälle, die Testkapazitäten voll auszuschöpfen. Bürger, die einer Reisesperre unterworfen sind, müssen schnellstmöglich Klarheit bekommen, ob sie infiziert sind oder nicht.

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