Deutschland steuert auf Neuwahlen zu Verlierer, Verräter, verspieltes Vertrauen

Verloren haben fast alle. Einige freilich deutlich mehr. Zuallererst die FDP. Ob die Liberalen nun spontan oder mit Vorsatz die Jamaika-Sondierungen mit CDU, CSU und Grünen haben platzen lassen, spielt zunächst einmal keine Rolle. Der fatale öffentliche Eindruck ist da: Die FDP entzieht sich der staatspolitischen Verantwortung. Was für ein Wagnis für eine Partei, die in Deutschland seit dem Kriegsende die meiste Zeit mitregiert hat.

Deutschland steuert auf Neuwahlen zu: Verlierer, Verräter,  verspieltes Vertrauen
Foto: SZ/Robby Lorenz

Daran ändern auch die einigermaßen seriösen Erklärungen von Parteichef Christian Lindner nichts. Erst recht nicht, wenn man weiß, dass Lindner nach vier langen Jahren außerparlamentarischer Opposition eine sofortige erneute Regierungsbeteiligung seiner Partei schon immer für zu früh erachtet hat. Eines muss doch auch der FDP-Spitze vor ihrem spektakulären Schritt nach vierwöchigen (!) Sondierungen bewusst gewesen sein: Wer als erster das Aus von Jamaika verkündet, der macht sich selbst zum Schuldigen. Das war taktisch nicht klug, sondern leichtsinnig. Vielleicht aus Selbstüberschätzung nach dem Erfolg bei der Bundestagswahl.

Die Deutschen lieben klare Verhältnisse, sie wollen solide regiert werden und erwarten von den Parteien, dass sie sich nicht einfach aus dem Staub machen, auch wenn es noch so knifflig wird. Oder, um es hart zu formulieren: Die Deutschen mögen keine Verräter. Es kann also gut sein, dass demnächst wieder das parlamentarische Totenglöckchen über der ach so „neuen“ FDP läutet.

Wie es anders gehen kann, haben in den vergangenen Wochen vor allem die Grünen bewiesen. Sie haben viele Schmerzgrenzen überschritten, obwohl sie mehrfach gute Gründe gehabt hätten, die Jamaika-Sondierungen voller Wut abzubrechen. Allein schon wegen der vielen unsäglichen Attacken seitens einer tief zerstrittenen CSU. Doch die Grünen haben im Laufe der Verhandlungen wohl als Einzige begriffen, worum es geht: Nicht nur um die Partei, sondern auch ums Land.

Wer gestalten will, muss Kompromisse akzeptieren – sollten sie noch so wehtun. Wenn es also unter den Sondierern einen Gewinner gibt, es sind die Grünen. Darüber hinaus hat auch eine andere Partei nicht verloren: die AfD. Dass sich die „Etablierten“ so sehr zerstritten haben, ist Wasser auf ihre Mühlen. Gibt es im Parlament mehr Parteien, die Opposition sind, als solche Parteien, die in der Regierung Verantwortung übernehmen wollen, nutzt das den Rechten und schadet dem Land.

Für Angela Merkel brechen jetzt harte Zeiten an. Auch sie ist eine große Verliererin der gescheiterten Sondierungen. Die Kanzlerin hat Jamaika unbedingt gewollt, sie hat zu den Gesprächen eingeladen, aber es nicht geschafft, die vier Parteien zueinander zu führen. Das Prinzip der CDU-Vorsitzenden, zu moderieren und die Konflikte andere austragen zu lassen, um nicht selber mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden, ist bei den Sondierungen an seine Grenzen gestoßen. Und damit auch Merkels Kanzlerschaft.

Noch widerfährt ihre gerade jenes Glück, dass ihr schon 2005 widerfahren ist. Damals rettete nur der Macho-Auftritt von SPD-Kanzler Gerhard Schröder am Wahlabend ihr politisch den Kopf. Diesmal hat die FDP dafür gesorgt, dass sich die Reihen hinter ihr schließen, und sogar die CSU ist plötzlich wieder zum Merkel-Fan mutiert. Aber: Die Geschlossenheit der Union ist damit lediglich von außen erzwungen, mehr nicht. Sie ist nicht echt, sie wird nicht lange Bestand haben.

Denn die innerparteiliche Kritik an Merkel und ihrem Kurs, der ja schon zu dem miesen Bundestagswahl-Ergebnis geführt hat, ist nicht verschwunden. Sie wird sich wieder Bahn brechen. Dann wird rasch überlegt werden, ob bei den nun möglichen Neuwahlen Merkel noch die Kandidatin für die Zukunft ist. Die Frage, ob sie selbst sich das noch einmal antun würde, beantwortete die 63-Jährige gestern mit einem klaren Ja. Sie sei „eine Frau, die Verantwortung hat und auch bereit ist, weiter Verantwortung zu übernehmen“. Tatsächlich gibt es in der Union derzeit weit und breit auch keine ernstzunehmende Alternative. Bisher hat nur Merkel den C-Parteien das, was ihnen am liebsten ist, gesichert: Macht.

Auch wenn der Bundespräsident alle Parteien mahnt, in sich zu gehen, Neuwahlen sind die wahrscheinlichste Variante. Denn die SPD bleibt (bisher) bei ihrer Linie, sich nicht in eine große Koalition zwingen zu lassen, um Merkel die Kanzlerschaft zu retten. Das ist richtig und konsequent. Ein Wortbruch an dieser Stelle wäre für die Sozialdemokratie mit unkalkulierbaren Folgen verbunden. Der Wähler muss nun das Drama der letzten Wochen bewerten. Niemand sonst.

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