Wo die Flüchtlingsmisere der Liebe im Weg steht

Saarbrücken · Bodo Kirchhoff und sein viertes Buch über die Tücken der Liebe: In „Widerfahrnis“ ist er noch besser als in den Romanen davor und steht damit zurecht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis

Zwei Einsame begegnen sich und brechen spontan auf. Sie sind nicht mehr jung, beide gescheitert, wohnhaft in einem Resort am Tiroler Achsensee in Erwartung eines ruhigen Lebensendes. Doch Julius Reither und Leonie Palm treibt Unruhe um. Sie begegnen einander im entscheidenden Lebensmoment, setzen alles auf eine Karte. "Amavero" steht auf der Karte - "ich werde geliebt haben". Reither hat dieses Wort aus dem Latein von seinem Vater bei einer Wanderung vor Jahrzehnten gehört, nie vergessen, und nun gewinnt die eigenwillige Konjugation an Bedeutung wie nie zuvor. Sterben, aber geliebt haben. Was für ein schöner, elegischer Einfall des Autors.

Reither war Verleger, seinen Verlag hat er verkauft. Palm hatte ein Hutmachergeschäft, es ging pleite. Zwei Menschen hadern mit Versäumnissen und Verlusten. Und wagen kühn einen euphorischen Aufbruch. Palm klopft an Reithers Tür, sie hat ein Manuskript und sucht seinen Rat. Reither, einsiedlerisch, lässt sie auf eine Zigarette herein. Bald sitzen beide in Palms schnellem Auto. Über den Brennerpass geht es an die Adriaküste, nach Süditalien, in ein Roadmovie mit Liebes-Crash, in einen irrsinnigen Gefühlsüberschwang. Es wird geredet und geraucht, aber so schnell kommen beide dann nicht zueinander.

Die von Kirchhoff gestalteten Dialoge sind meisterhaft. Seinem Buch gab er den Gattungstyp "Novelle", die zielt auf eine unerhörte Begebenheit. Die kommt, aber ganz anders, als das Ausreißerpaar vermutet. Kirchhoff zeigt virtuos, wie aussagekräftig das Weglassen ist. Wir erfahren nur andeutungsweise, was geschieht, und werden dadurch hineingesogen.

"Wir sitzen hier wegen Menschen, die es in unserem Leben nicht mehr gibt oder nie gab", erklärt Palm,. "Was glauben Sie, wer wir beide sind?" Reither verlor vor vielen Jahren seine große Liebe, weil er seine Partnerin zur Abtreibung nötigte. Palm ist traumatisiert, weil ihre Tochter Selbstmord beging. Mit einer frivolen Hoffnung auf einen späten Neuanfang wollen sie sich aus den Miseren retten. Das gelingt nicht, auch wenn beide in Catania auf skurrile Weise zueinander finden.

Schuld ist das Mädchen im abgeranzten roten Kleid, vielleicht zwölf Jahre jung. Es bietet seine Halskette zum Verkauf an, stört das romantische Abendessen vor der ersten Liebesnacht. Erst gibt es eine Cola für das Kind, dann bekommt es zu essen, wird eingekleidet, im Auto mitgenommen. Das Mädchen redet nicht, ist Engel, aber auch Hexe. Die Ausreißer träumen vom späten Familienglück, das Flüchtlingskind wird zur Projektionsfläche, an ihm wollen sie alles wiedergutmachen. Aber das Kind verweigert sich, es spürt die Gewalt.

Das Flüchtlingsthema könnte aufgesetzt erscheinen, ist es aber nicht. Kirchhoff hat immer den Blick auf soziale Probleme gerichtet, in "Die Liebe in großen Zügen", "Verlangen und Melancholie" und "Eros und Asche", alles großartige Geschichten von den Tücken der Liebe. Hier nun kollidiert sie mit der Realität eines verwilderten Kindes. Die Flüchtlingsmisere wird nicht benutzt, sie kommt als Teil der Realität ins Spiel. Mit 68 Jahren und vielen Büchern ist Kirchhoff zu einem Erzähler geworden, der die Energie der Literatur zu nutzen weiß.

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Frankfurter Verlagsanstalt, 224 Seiten, 21 €.

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