"Zeitenwende" von Michael Friedman und Harald Welzer Eine Verteidigungsschrift für die Demokratie

Saarbrücken · Wie bedroht ist unsere Demokratie – und wie widerstandsfähig? Michel Friedman und Harald Welzer haben sich Gedanken gemacht und diese als Buch herausgebracht.

 Zeitenwende

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Foto: Kiepenheuer & witsch

Dieses Buch ist anregend, auf konstruktive Weise zeitkritisch und fesselt durch seine dialogische Struktur, weil sich seine Gedankengänge dadurch unmittelbar nachvollziehen lassen. Vor allem aber entlässt es uns nicht aus unserer demokratischen Verantwortung, sondern erinnert uns daran, dass wir vor lauter schrankenlosem Individualismus nicht vergessen sollten, dass Demokratie soziale Teilhabe verlangt.

Worum geht es? Michel Friedman und Harald Welzer, zwei der präsentesten deutschen Intellektuellen,   haben sich im vergangenen Frühjahr zu mehrtägigen Gesprächen über den Zustand und die  Gefährdungen der westlichen Demokratien getroffen und ihre Bestandsaufnahme in Gesprächsform zusammengefasst. Nachzulesen ist beider Gedankenaustausch  nun in ihrem Buch ,,Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde“.

In 14 Kapiteln analysieren und kommentieren Friedman und Welzer  ein ganzes Arsenal an konkreten Bedrohungen unserer heutigen Demokratien  –  sei es die Renaissance des Nationalismus, der Aufstieg von Autokraten,  das Fehlen von politischen Visionen,  seien es Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, die negativen Folgen der Digitalisierung  und Bildungsungerechtigkeit oder der Verlust von Zivilcourage und politisch-gesellschaftlichem Interesse. „Es ist wichtiger, dass das Auto in die Waschanlage kommt, als dass die Demokratie verteidigt wird“, formuliert Welzer voller Zynismus.

Insbesondere der letzte Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit, weil er das kritischer Teilhabe bedürfende Demokratiemodell  auszuhöhlen droht: Die Errungenschaften von Demokratien als selbstverständlich zu betrachten, führe zu einer gleichgültigen Haltung  gegenüber ihren Erosionen, befinden Friedman und Welzer übereinstimmend. ,,Je mehr du an Lebenssicherheit und Gefahrenregulierung hast, desto weniger hast du die Vorstellung, es sei eine soziale, kulturelle und politische Leistung.“   Dabei  laute der kategorische Imperativ der Demokratien, wie Welzer es formuliert, angesichts einer zusehends  gesellschaftlich desinteressierten Mehrheit umso mehr: ,,Du musst es persönlich nehmen.“ Friedman wiederum betont gebetsmühlenhaft, dass Freiheit soziale Verantwortung impliziert: ,,Unpolitisch zu sein, ist eine Entscheidung, für die man zur Verantwortung gezogen werden kann.“

Friedmans und Welzers leidenschaftliches Plädoyer für mehr Demokratie in ,,Zeitenwende“ fordert zum Hinterfragen gewohnter Positionen auf. Viele westliche Gesellschaften verabschiedeten sich schleichend in eine ,,postdemokratische Phase“, in der autokratische Regierungen salonfähig geworden seien und  Grundprinzipien pluraler Gesellschaften (maßgeblich die Unabhängigkeit von Justiz und Medien und der verfassungsrechtliche Schutz von Minderheiten und der Privatsphäre) zur Disposition stünden. Humanitäre Standards würden selbst in Deutschland zusehends ausgehebelt, wie Friedman am Beispiel der schmählichen Reaktionen der Politik auf das Flüchtlingsdrama auf Lesbos aufzeigt. „Wie wollen wir Diktatoren, mörderische Regime, autokratische Systeme kritisieren, wenn wir unsere eigenen Maßstäbe nicht respektieren? So viel Heuchelei und Doppelmoral sind kaum aushaltbar.“

Das lediglich ritualisierte  Beschwören demokratischer Werte zeitigt fatale Folgen, mahnen Friedman und Welzer. Nach und nach büßten die westlichen Gesellschaften dadurch ihre Glaubwürdigkeit ein. Ihr Wertekanon, ihre Normen müssten jedoch gelebt werden, um  Kollektiven wirkliche Bindungskraft zu geben.  Wer immer nur mit dem Zeitgeist surft, wechselt seine Ansichten wie die Kleider. Wobei Welzer zurecht daran erinnert, dass es selbst vielen politischen Akteuren heute an historisch-politischer Bildung fehle. ,,Viele wissen gar nicht, wie sie Zeiterscheinungen zuordnen, wie sie die kontextualisieren sollen.“  Vor lauter bloßem Verwalten des Bestehenden reflektiere man nicht mehr über gesellschaftliche Ziele: ,,Urteilskraft wird durch Expertenquatsch substituiert.“  Folge dieser schwindenden sozialen Verantwortung sei eine wachsende  ,,Entzivilisierung“ der Gesellschaft. Festzumachen etwa am Ignorieren der Ideen  nachfolgender Generationen oder an der ,,Entleerung von Inhalten im Bereich der Wissenschaft“.

Breiten Raum nimmt im Buch die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und systematischem Rassismus ein. Der Judenhass, befindet Friedman,  ,,gehört zur kulturellen Identität Europas. Er ist grenzenlos.“ Auch habe sich ,,das alltägliche Erleben von geistiger, verbaler wie tatsächlicher Brandstiftung  (…) brutal gesteigert“.  Welzer wiederum bekundet,  viele Deutsche empfänden persönlich keine Schuld. Um die  Shoa und ihren Genozid zu verstehen, müsse man die Täter in den Blick nehmen. Dazu gehören für die beiden Diskutanten dann auch die Täter von heute,  etwa Rechtsextremisten im Lager von Pegida und AfD.

Konkrete Vorschläge, wie die befürchtete ,,Zeitenwende“  in Richtung antidemokratischer Prinzipien zu verhindern ist, geben Friedman/Welzer auch.  Politische Bildung müsse ein Kernfach an Schulen werden, wie überhaupt dort auch mehr „Widerspruchskultur“ (Friedman) gelehrt werden müsse.  Einig sind sich beide, dass der Rechts­staat gestärkt, dass die Medien sich wieder auf ihre Wächterrolle konzentrieren und dumpfen Rassismus ignorieren sollten, dass die Idee vom ,,Bundesstaat Europa“   zu revitalisieren und Multikulturalität zu fördern sei. Und, dies vor allem,  dass es mehr soziale Gegengewichte in Gestalt gelebter Werte braucht gegen das, was Welzer unser ,,flexibles Gewissen“ nennt,  unsere fehlende ,,moralische Intelligenz“.

Vieles von dem, was beide da über fast 300 Seiten hinweg diskutieren, ist nicht neu.  Dennoch lässt sich dieses Buch nachhaltig empfehlen.  Es erinnert uns an unsere soziale Verantwortung und streut dabei durchaus auch die eine oder andere konkrete Utopie ein, was wir wie künftig besser machen können. Denn, so könnte man die Essenz des Buchs zusammenfassen: Nicht nur Demokratien müssen sich ständig erneuern, auch wir müssen es. Indem wir unsere eigenen Haltungen immer wieder hinterfragen und eine Streitkultur pflegen und, wenn nötig, Haltung zeigen und für die demokratischen Werte eintreten.

Michel Friedman/Harald Welzer:  Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde. Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 22 Euro.

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