Wegführungen religiöser Sinnsuche

Saarbrücken · Was Saarbrückens künftiger Intendant Bodo Busse hier versuchen will (neue Besucherschichten und Spielorte zu erschließen), hat der Dramaturg Björn Bicker bereits getan, als Theater-Stadtraumprojekte noch Neuland waren. Für ein Münchner Bühnenprojekt über Religiosität in Deutschland betrieb er eine Art Feldstudie des Glaubens. Daraus ist nun auch ein Buch entstanden.

Zwar sinken die Mitgliederzahlen der beiden großen christlichen Glaubensgemeinschaften in Deutschland stetig: Binnen 25 Jahren (1990-2014) büßte die katholische Kirche 4,5 Millionen Mitglieder ein (Stand 2014: 23,9 Millionen), während die evangelische Kirche fast sieben Millionen verlor (Stand 2014: 22,6 Millionen). Was allerdings nicht unbedingt heißt, dass die Deutschen heute weniger religiös sind. Spiritualität und Sinnstiftung suchen viele. Wie sagte Voltaire? "Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden." Im Übrigen bedeutet Konfessionslosigkeit nicht zwingend, unreligiös oder atheistisch zu sein. Zumal es längst einen Trend dahin gibt, sich gewissermaßen seine "Privatreligion" zu basteln - eine Art "Patchwork-Glauben", der etwa Buddhismus mit Naturreligion oder christlicher Soziallehre vermischt. Je undurchschaubarer das Weltgeschehen und je materialistischer das Leben wird, umso mehr wächst das Bedürfnis nach Halt, Wertorientierung, nach Inspirationsquellen.

In seinem Buch "Was glaubt ihr denn - Urban Prayers" unternimmt der Theaterdramaturg Björn Bicker den Versuch, am Beispiel Münchens ein Zustandsbild religiöser Bewegungen in Deutschland zu geben. Dass in der Hauptstadt Bayerns, gemeinhin als Hochburg des Katholizismus geltend, inzwischen mehr Nicht-Christen als Christen leben, illustriert, dass Deutschland längst eine multikulturelle Gesellschaft geworden ist. Dass Religion, wie es Bicker herausarbeitet, jenseits von Kanzel, Pfarrgemeindekreis, Kirchentagen oder Synoden im deutschen Alltag weiter präsent ist, hat nicht zuletzt auch mit Nicht-Christen zu tun: Für die über fünf Millionen Muslime in Deutschland ist der Islam fernab ihrer jeweiligen Herkunftsländer ein Stück Heimatbindung.

Bickers literarische Glaubensmilieustudie "Urban Prayers" basiert auf einem Theaterstück der Münchner Kammerspiele, für das er vor einigen Jahren das, was Jürgen Habermas unsere "postsäkulare Gesellschaft" nannte, vor Ort recherchiert und eine "religiöse Kartografie der Stadt" (Bicker) erstellt hat. Im Nachwort legt er das bezwingende Theaterkonzept dahinter dar: Für ein Stück über das Nebeneinander heutiger Religionsgemeinschaften in deutschen Großstädten - angefangen von Zulauf gewinnenden Pfingstlergemeinden und evangelikalen, südamerikanischen Freikirchen über Moscheen für afghanische, togolesische oder indonesische Sunniten bis hin zu Sikh-Gemeinden, jüdischen Synagogen und buddhistischen Zirkeln - unternahm der Dramaturg eine Münchner Feldstudie. Er lernte, dass die oft an der Stadtperipherie lokalisierten Glaubensorte Sozialbörsen der jeweiligen Communitys sind: Beratungszentren für alle Lebenslagen.

Am Ende führten die Kammerspiele "Urban Prayers" als vielstimmigen Bürgerchor an sieben verschiedenen Orten auf, in Moscheen, Kirchen und einer Synagoge. Später realisierte Bicker auch für das Hamburger Schauspielhaus ein ähnliches Crossover-Projekt unter dem Titel "Die Insel". Dazu gründete man im Hamburger Stadtteil Veddel, verschrien als Hort heutiger Parallelgesellschaften, ein Café als Ort der Begegnung, initiierte eine temporäre Koranschule für Muslime und Nicht-Muslime und führte das Stück mit Schauspielern und Bewohnern auf. In beiden Stücken ging es vorrangig darum, die heutige Pluralität von Religion einzufangen. Genauso aber war es Ziel, Theater nicht nur als bildungsbürgerliche Anstalt zu begreifen. Auf dass es nicht nur ein, so Bicker, "Naherholungsgebiet unverfänglichen Unter-Sich-Seins" klassischer Theatergänger bleibt, sondern sich auch Randgruppen öffnet und deren Lebenswirklichkeit spiegelt.

Leider ist das Nachwort Bickers fast ergiebiger als das eigentliche Buch. In sieben Kapitel unterteilt, besteht es aus aneinandergereihten Gesprächsprotokollen und Impressionen einer guten Handvoll Personen, die er bei seinen Münchner Recherchen getroffen hat. Sie spiegeln deren religiösen Alltag und die Probleme ihrer sozialen Anpassungsprozesse. Deutlich wird, dass an den orthodoxen Rändern die Toleranz schwindet und die religiösen Eiferer sich häufen. Porträtiert werden ein Imam; eine an ihrem Glauben zweifelnde katholische Religionslehrerin; eine tunesische Medizinstudentin, die wegen ihres Kopftuchs oft für eine Putzfrau gehalten wird; ein DHL-Bote, der einen Sikh mit Turban als Kollegen einarbeitet, oder ein kongolesischer Priester, dem in Milbertshofen Rassismus entgegenschlägt. Immer wieder dazwischenmontiert ist ein so genannter Chor der gläubigen Bürger, der für eine semantische Polyphonie sorgt: Man spricht durcheinander, widerspricht sich, äußert Ängste, Sorgen, Vorurteile. Auf der Bühne mag das funktionieren, als roter Buchfaden eignet es sich nicht.

Björn Bicker: Was glaubt Ihr denn. Urban Prayers. Kunstmann, 272 Seiten, (mit zahlr. Abb.), 24,95 €.

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