Opernstar unter Verdacht der sexuellen Belästigung Solidaritätswelle für Plácido Domingo

Salzburg · Der wegen sexueller Übergriffe beschuldigte Tenor bekommt unerwartet Unterstützung. Bei den Salzburger Festspielen feiern ihn Kollegen und Publikum.

  Auch Anna Netrebko, hier als Leonora mit Plácido Domingo als Graf Luna in Verdis „Troubadour“ (Salzburg 2014), solidarisierte sich mit dem Kollegen.

Auch Anna Netrebko, hier als Leonora mit Plácido Domingo als Graf Luna in Verdis „Troubadour“ (Salzburg 2014), solidarisierte sich mit dem Kollegen.

Foto: dpa/Barbara Gindl

Die drei Tenöre waren perfekt ausgesucht. Der eine war der Dicke mit dem metallischen Strahl in der Stimme. Der andere war der Kleine, der zuweilen mit seiner Höhe haderte, aber eine herrliche Eleganz des Singens besaß.

Und der Dritte war Plácido Domingo, der Sonnige und Glutvolle, dessen Stimme flüssige Bronze in die Musik goss. Für die Rolle des Verführers war er die Bestbesetzung. Frauenherzen ließ er (in „Aida“ oder „Tosca“) dahinschmelzen, manchmal bezwang er sie („Turandot“), manchmal musste er auch brutal nachhelfen („Rigoletto“).

Jetzt hören wir, dass der Tenor sich im wirklichen Leben über Jahre wie ein berühmter Bariton aufgeführt haben soll, nämlich wie der fette und notgeile Ritter Sir John Falstaff in Verdis gleichnamiger Oper. Neun Frauen teilten der Nachrichtenagentur AP mit, sie hätten in den 80er und 90er Jahren „verletzende“ Erfahrungen mit ihm gemacht: Anmache, aufgezwungene Küsse, Griffe unters T-Shirt. Nur eine von ihnen, die Mezzosopranistin Patricia Wulf, nannte ihren Namen, die anderen blieben anonym.

Wulfs Einlassungen lasen sich im Vergleich dazu dezent: Domingo habe es immer wieder bei ihr probiert, fraglos habe eine gewisse Stalking-Atmosphäre geherrscht, aber sie habe sich stets widersetzt, und das habe ihr auch keine beruflichen Nachteile eingebracht. Beide haben später oft gemeinsam auf der Bühne gestanden. Möglicherweise hat ihm ihr Nein auch imponiert.

Domingo hat die Beziehungen zu den Frauen nicht geleugnet, doch seien die Vorwürfe unpräzise. Er sagte: „Ich habe geglaubt, dass alle meine Interaktionen und Beziehungen immer willkommen und im gegenseitigen Einverständnis waren. Wer mich kennt oder mit mir gearbeitet hat, der weiß, dass ich nicht jemand bin, der absichtlich jemanden verletzen, beleidigen oder blamieren würde. Ich erkenne jedoch an, dass die Regeln und Normen, an denen wir uns heute messen lassen müssen und messen lassen sollten, sehr anders sind als in der Vergangenheit.“

Das liest sich wie eine windelweiche Entgegnung. Fest steht auch, dass sich Domingo menschlich grenzwertig verhalten hat, aber zu direkter Gewalt wie etwa bei dem Filmproduzenten Harvey Weinstein oder zu sexuellen Manipulationen an minderjährigen Männern, die dem Dirigenten James Levine vorgeworfen werden, ist es bei Domingo nach jetziger Aktenlage nie gekommen. Immer auch hallt die Frage im Resonanzraum der Angelegenheit: Wie viel Gewogenheit gab es auf der anderen Seite?

Interessant ist indes, wie die Musikwelt mit der neuen Lage umgeht. Domingo ist zwar 78 Jahre alt, aber weiterhin unersättlich nach Oper. Das Publikum der Salzburger Festspiele hat den Opernstar Plácido Domingo (78) ungeachtet der Vorwürfe am Sonntag demonstrativ gefeiert. Bei dem ersten Auftritt des Spaniers seit Bekanntwerden der Vorwürfe war das gesamte Sängerensemble der konzertanten Aufführung von Verdis „Luisa Miller“ noch vor dem ersten Ton der Ouvertüre auf die Bühne getreten. Das Publikum stand auf und applaudierte mit lauten Bravo-Rufen, wie Teilnehmer berichteten. Die Salzburger Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler hatte den Opernstar nicht ausgeladen wie diverse US-amerikanische Häuser. Sie sagte, sie fände es sachlich falsch und menschlich unverantwortlich, zum derzeitigen Zeitpunkt Urteile und Entscheidungen zu fällen. Sie kenne den Spanier seit über 25 Jahren. Neben seiner künstlerischen Kompetenz habe sie „von Anfang an sein wertschätzender Umgang mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Festspiele beeindruckt“. Auch die Wiener Staatsoper und die Hamburger Elbphilharmonie halten an ihren Engagements mit Domingo fest, anders als viele US-Häuser, die ihre Verträge mit Domingo bereits gekündigt haben.

In den USA haben es jene Beschwerdeführerinnen erreicht, dass Anklage und Urteil, nämlich eine enorme mediale Nachlast, sozusagen zeitgleich erfolgten; dabei wird es vermutlich gar keine weiteren Nachforschungen, geschweige denn einen Prozess geben. Trotzdem bekommt Domingo in den USA kein Bein mehr auf die Erde.

Die Lage ist nun außerordentlich verworren und voller unerwarteter Wendungen, denn die Zahl der Fürsprecher Domingos wächst von Tag zu Tag. Es handle sich um einen schlimmen Fall von Denunziation, zumal er keine Beweise nach sich ziehe, sagen viele Kommentatoren im Internet. Berühmte Sopranistinnen wie Anna Netrebko oder Sonya Yoncheva solidarisieren sich mit ihm. In der Tat, in Schutz genommen wird Domingo vor allem von Frauen. Maria Ossowski sagte im SWR: „Der Fall zeigt, wie erbarmungslos eine schnell urteilende, teilweise moralinsaure Erotikpolizei über einen Menschen herfällt und sein Lebenswerk zerstört. Man sitzt zu Gericht im Internet.“ Leonetta Bentivoglio von der italienischen Tageszeitung „Repubblica“ ergänzt: Jeder habe gewusst, dass Domingo „ein Don Juan war. Und in der freizügigen Theaterwelt steht er damit nicht alleine“. Sie fuhr fort: „Wir müssen aber auch sagen, dass sein Charme immer viele Frauen angezogen hat, und oft war er es, der sich verteidigen musste.“

Eingegriffen in Karrieren hat Plácido Domingo insofern, als er selbst in vielen Gesangsjurys saß und so manche junge und hoffnungsvolle Sängerin eben nicht protegierte. Hatte sie ihm vorher schöne Augen gemacht und rächt sich nun, viele Jahre später? Solche denkbaren Spätfolgen darf man nicht außer Acht lassen, ebenso wenig die Tatsache, dass auf so mancher Intendantencouch und in mancher Künstlergarderobe erotische Geschäfte in gegenseitigem Einvernehmen abgewickelt wurden.

Ein Heiliger ist Domingo keineswegs. Seine Frau, mit der er seit 1962 verheiratet ist, hat er offenbar nach Strich und Faden betrogen. Und manuelle oder labiale Anbahnungsversuche hätte er schon damals als Tabu begreifen müssen. Aber für die Metoo-Debatte scheint er nicht der optimale Kandidat.

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