„Vom Moralisieren halten wir nicht viel“

Der jüngste Film der regieführenden belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne heißt „Das unbekannte Mädchen“. Adèle Haenel spielt eine Ärztin, in deren Praxis es spätabends klingelt – sie öffnet nicht mehr, und am nächsten Morgen wird eine tote Frau in der Nähe gefunden. Die Ärztin fühlt sich schuldig und versucht, die Identität der unbekannten Frau herauszufinden. Schnörkellos wie üblich erzählen die Regie-Brüder ihren Krimi um Schuld und Sühne. Mit beiden unterhielt sich SZ-Mitarbeiter Dieter Oßwald.

 Adèle Haenel als schuldbeladene Ärztin Jenny. Fotos: temperclayfilm

Adèle Haenel als schuldbeladene Ärztin Jenny. Fotos: temperclayfilm

Manche Kritiker bezeichnen Sie als Moralisten. Würden Sie das als Kompliment verstehen?

Luc Dardenne: Vom Moralisieren halten wir nicht viel. Aber wir finden es wichtig, einen moralischen Standpunkt zu beziehen und zwar auch in wirtschaftlichen Fragen. Als einfaches Beispiel: Eine Gruppe von fünf Leuten hat Durst, einer von ihnen besitzt eine Flasche Wasser. Soll er es teilen und wenn ja wie? Das wäre eine moralische Frage, die wir spannend finden.

Jean-Pierre Dardenne: Es ist bisweilen lächerlich, wenn Regisseure sich über Politik äußern. Wir sprechen gerne über die Filme, die wir gemacht haben. Bei deren Geschichten kennen wir uns aus, vom Rest haben wir jedoch auch nicht mehr Ahnung als jeder andere. Warum sollten Künstler besser wissen, wie man eine Gesellschaft verändert?

Es wird auffallend häufig geschwiegen im Film.

Jean-Pierre Dardenne: Ruhe ist wichtig. Denn die auffallende Qualität unserer Ärztin ist, dass sie sehr gut zuhört. Der Wechsel von Ruhe und Lärm schafft dazu eine besondere Dramaturgie.

Ihre Heldin wirkt bisweilen wie eine Heilige. Welche Rolle spielt der religiöse Aspekt für Sie?

Luc Dardenne: Dass sie ihre Karriere aufgibt, um anderen Menschen zu helfen, kann man religiös interpretieren, allerdings lassen sich ebenso gut andere Erklärungen finden. Jenny steckt in einem moralischen Dilemma. Sie empfindet eine große Schuld, von der sie regelrecht verfolgt wird.

In einer Schlüsselszene zu Beginn sagt die Ärztin zu ihrem Praktikanten, dass man immer stärker als seine eigenen Emotionen sein muss. Was ist damit gemeint?

Luc Dardenne: Wie jeder Arzt sollte auch Jenny sich nicht nur auf ihre emotionalen Instinkte verlassen, wenn es darum geht, eine medizinische Diagnose zu stellen. Jedoch spielt dieser Instinkt automatisch eine Rolle, wenn sie mit ihren Patienten zusammen ist - und noch mehr während sie nach der Identität des toten Mädchens forscht.

Welche Rolle spielt es, dass das titelgebende Mädchen in Ihrem Krimi eine Migrantin ist?

Luc Dardenne: Wenn wir einen Film entwickeln, beginnen wir nie mit einer These. Wir wollen keine sozialkritischen Essays liefern. Unser Ausgangspunkt besteht in der Darstellung einer Figur, die natürlich in eine gesellschaftliche Wirklichkeit eingebettet ist. Wenn diese Figur auf eine Frau trifft, deren Identität unbekannt ist, stellt sich die Frage von Migranten von selbst.

 Die Regisseure/Autoren Jean-Pierre (l.) and Luc Dardenne.

Die Regisseure/Autoren Jean-Pierre (l.) and Luc Dardenne.

Zu sehen im Saarbrücker Filmhaus: Heute 18 Uhr, 29. und 30. Dezember 17.45 Uhr.

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