Vom blauen Pferd zur Abstraktion

Saarbrücken · Vor 100 Jahren wurde Franz Marc, gerade 36, vor Verdun als Meldereiter von Granatsplittern durchbohrt. Die erste biografische Annäherung an Marc erschien 1936 und wurde von den NS-Kunstwarten sofort verboten. Seit den 50ern hat vor allem der Kunsthistoriker Klaus Lankheit die Erinnerung an Marcs Werk gepflegt. Seit Beginn dieses Säkulums ist eine Renaissance der Marc-Forschung zu verzeichnen. Dazu gehören mehrere Biografien. Die jüngste stammt von Wilfried F. Schoeller. Der emeritierte Saarbrücker Germanist Gerhard Sauder stellt sie vor.

 Marcs „Springendes Pferd“ von 1912. Foto: Franz Marc Museum

Marcs „Springendes Pferd“ von 1912. Foto: Franz Marc Museum

Foto: Franz Marc Museum

Wilfried F. Schoeller, lange Jahre Leiter der Abteilung "Aktuelle Kultur" des Hessischen Rundfunks, möchte die zahlreichen Verzeichnungen in der Sicht auf Franz Marc korrigieren: Ein Marc auf Postkarten, die seine blauen und roten Pferde millionenfach verbreiteten, entspricht dem Maler so wenig wie die Deutung seines Werkes ins Religiöse oder im Sinne ethischer Vorbildlichkeit. Insoweit versteht sich Schoellers Marc-Biografie als "Abräumarbeit". Er arbeitet den Abstand, der den Einzelgänger lange von den meisten seiner Kollegen trennte, sowie die inneren Spannungen Marcs heraus.

Schoeller legt keine Personengeschichte in strenger Chronologie vor. Die elf umfangreichen Kapitel bieten zeitliche Überschneidungen, vorausschauende Passagen und gelegentliche "Längsschnitte". So entsteht eine in sich bewegte Darstellungsform. Diese Biografie hat ihre Stärken nicht in neuen stofflichen Details, sondern in der kritischen Interpretation.

Die Familiengeschichte ist jetzt bekannt: Franz Marcs Ur-Urgroßvater war Kaufmann im Fürstentum Waldeck und Stammvater einer kinderreichen jüdischen Familie. Die Kinder ließen sich taufen, wurden Beamte. Marcs Großvater Moritz August etwa war Regierungsdirektor in Speyer. Vater Wilhelm studierte Jura, schrieb sich aber nach dem Examen an der Kunstakademie München ein. Die Mutter, Sophie Maurice, Elsässerin aus Guebwiller, besuchte in Basel ein calvinistisches Internat und wirkte in Petersburg als Erzieherin der Kinder einer Schwester ihres späteren Mannes. Nach zehn Jahren Bekanntschaft wurde 1877 geheiratet. Wilhelm Marc war wohl ein gefragter Landschafts- und Genremaler.

Kindheit und Jugend verbrachte Franz Marc in München - mit seinem Bruder Paul wurde er von der Mutter zweisprachig und protestantisch erzogen. Er sollte Theologie studieren, schrieb sich aber nach dem Militärdienst 1900 an der Akademie ein. 1901 bis 1905 entstanden in der Wahlheimat Kochel Landschaftsbilder, meist in dunklen Tönen. Eine Reise nach Frankreich und die Kenntnis der Impressionisten führte zur Aufhellung seiner Farben. Seit 1904 verfügte er in München über ein Atelier - bezahlt von einer seiner drei Geliebten, Annette Simon. Gleichzeitig pflegte er eine intensive Beziehung mit der Malerin Marie Schnür, die er heiratete, damit sie ihr außereheliches Kind zu sich nehmen konnte. Seit 1905 war er auch mit Maria Franck, seiner späteren Frau, liiert. Es war dies, so Schoeller, eine komplizierte "Äquilibristik zwischen zeitweilig drei Geliebten!"

Intermezzo als "Tiermaler"

Aus Geldnot versuchte Marc Ölbilder auf Titelseiten der Zeitschrift "Jugend" unterzubringen und sich auch sonst dem Münchner Jugendstil zu nähern. Erfolg blieb aus. 1908-1911 konzentrierte er sich auf die Darstellung von Tieren; fast in Lebensgröße, mit exakter Beobachtung der Bauformen. Mit der vierten Version seiner "Roten Pferde" gelang ihm im Februar 1911 der Durchbruch.

Die Van Gogh-Ausstellung Ende 1909 in München und seit 1910 die Freundschaft mit August Macke führten zum Umbruch in Marcs Malerei. Es folgten Einzelausstellungen in München und Verkäufe. Marc betrieb vermehrt Farbstudien. Sein Interesse galt Komplementärfarben. Im Mai 1911 entstand eines seiner bedeutendsten Gemälde, das zu den Beständen des Saarlandmuseums gehört: "Das blaue Pferd" - eine Verwandlung des Gegenstands zum reinen Farbsymbol. 1911/12 verstand sich Marc als "Tiermaler" mit einer Auflösung der Körper in Linien, Farbfelder und Prismen. Das Abbild hatte ausgedient.

Die Bekanntschaft mit Kandinsky, die Freundschaft mit Jawlensky und Malern der "Brücke" gab ihm künstlerisch neuen Schub. 1911/1912 entstand, organisiert von Kandinsky und Marc, der berühmte Almanach "Der Blaue Reiter" - ein Manifest der Moderne. Große Ausstellungen verbreiteten Marcs und Kandinskys Ruhm. Im April 1914 erwarb er ein Haus in Ried, das er mit seiner Frau bezog.

1914 wurde Marc sofort einberufen, 1915 mit dem Eisernen Kreuz dekoriert und zum Leutnant der Landwehr befördert. Sein Regiment wurde in die Vogesen verlegt. Den frühen Tod seines Freundes August Macke, den eine "befreundete Kugel, eine französische", traf, konnte er nicht verwinden. Die "Briefe aus dem Feld" sind eine unschätzbare Quelle für Marcs 19 Monate als Soldat. Er schrieb Artikel über den Krieg, die sein Bruder und seine Frau ob ihrer mythisierenden Kriegsdeutung ablehnten. Sein Schlüssel zum Verständnis des großen Gemetzels war "Reinigung".

Nach seinem Tod am 4. März 1916 setzt der Nachruhm schlagartig ein. Die Preise für Marcs Bilder stiegen. Während der Nazizeit wurden 152 seiner Werke aus öffentlichen Sammlungen geraubt. Seit den 90ern distanzierte sich eine neue Generation von Kunsthistorikerinnen (Kirsten Jüngling, Brigitte Roßbeck/Annegret Hoberg/Isabelle Jansen) vom Marc anhaftenden Deutungsmuster der Innerlichkeit. Daran hat nun auch Schoellers Buch Anteil.

Wilfried F. Schoeller: Franz Marc. Eine Biographie, Hanser, 400 Seiten, 26 €.

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