Voller Schmerz- und Qualfarben

Essen · Das Essener Museum Folkwang zeigt eine Retrospektive der Werke von Maria Lassnig.

 Maria Lassnig (1919-2014), aufgenommen 1983 im Alter von 64 Jahren beim Malen eines ihrer Selbstporträts. Foto: Kurt-Michael Westermann/ Maria Lassnig Stiftung

Maria Lassnig (1919-2014), aufgenommen 1983 im Alter von 64 Jahren beim Malen eines ihrer Selbstporträts. Foto: Kurt-Michael Westermann/ Maria Lassnig Stiftung

Foto: Kurt-Michael Westermann/ Maria Lassnig Stiftung

"Dame mit Hirn": Wer hinter diesem Bildtitel Ironie vermutet, liegt nicht falsch. Das Gemälde selbst ist allerdings von Verzweiflung gezeichnet. Es zeigt das kahle Antlitz einer alten Frau mit offenem Mund und aufgerissenen Augen. Das Gehirn ist buchstäblich herausgetreten, es prangt an der linken Schläfe. Als Maria Lassnig 1990 dieses Bild malte, war sie bereits über 70 Jahre alt. Ihre Erfolgsgeschichte allerdings war damals noch recht dünn. Die österreichische Künstlerin gehört zu den Spätentdeckten, ein Schicksal, das sie mit ihrer amerikanischen Kollegin Louise Bourgeois teilte.

Dabei hat Lassnig während ihres langen Schaffens zwar stilistische Veränderungen vorgenommen, nie aber hat sie ihr Thema geändert. "Ich male nicht den ,Gegenstand' Körper, sondern ich male die Empfindungen vom Körper", erklärte sie ihren künstlerischen Ansatz hinter den so genannten "Körperwahrnehmungsbildern". Die Retrospektive, die das Essener Museum Folkwang mit über 40 Gemälden, einigen Filmen sowie Archivmaterialien präsentiert, lädt ein, die Stringenz des Werkes von Maria Lassnig nachzuvollziehen.

Sowohl in ihrem ersten Selbstporträt (1945) wie auch in ihrem letzten, das sie ein Jahr vor ihrem Tod 2013 fertigstellte, hält sie einen Pinsel in der Hand. Beide Bilder sind in realistischer Manier gemalt, der einst selbstbewusste Blick ist indes einem Ausdruck der Hilflosigkeit gewichen. Der Körper ist in der großen, weißen Leinwandfläche verloren gegangen. Zwischen diesen beiden Porträts entfaltet sich ein Bild- bzw. Körperkosmos, der zunächst Einflüsse vom Informel verrät, sich immer wieder ins Abstrakte bewegt, stets aber mit realistischen Elementen das Thema in den Fokus rückt. Die psychische wie physische Auseinandersetzung mit Innen- und Außenwelt hat Maria Lassnig auf hypersensibel subjektive Weise vollzogen. Die Grenzen zwischen dem eigenen (Körper-)Erleben und den äußeren Erscheinungen waren dabei durchlässig und in permanenter Bewegung. Man begegnet der Künstlerin - mal mehr, mal weniger deutlich erkennbar - in diversen Metamorphosen zwischen Alltag und Ausnahmezustand: mit einem Kochtopf auf dem Kopf und als Sessel mit Unterschenkeln, als Kriegsfurie mit Gewehrlauf im Körper und als augenloser Sensenmann sowie gleich vierfach in einem Krankenhausbett, leidend und deformiert.

Verzweiflung und Kritik, aber auch humoristische Kommentare sprechen aus Lassnigs Arbeiten, die sie ausnahmslos als Selbstporträts bezeichnete. Von zentraler Bedeutung ist die fast abstrakte Arbeit "Selbstporträt mit Nervenlinien". Der Blick unter die Oberfläche als Ausdruck dessen, was der Künstlerin sozusagen unter die Haut ging. Konkret bedeutete dies etwa den Schmerz über den plötzlichen Tod der Mutter. Maria Lassnig zeigt die Verstorbene als Skizze auf einer Leinwand, die der davor sitzenden Künstlerin die Hände auf deren nackte Schultern legt. Es geht im Werk der Österreicherin auch um die Reflexion des Malens: die Leinwand als Bildthema, Symbol einer permanenten Herausforderung. Lassnig ließ sich zwar nicht feministisch vereinnahmen, bezog aber eine explizit weibliche Position in der Kunstwelt.

Womöglich ist das auch ein Grund für ihre lange Erfolglosigkeit gewesen. Fast 20 Jahre lebte sie erst in Paris, danach in New York an Brennpunkten der Kunstentwicklung - und musste sich mit Auftragsporträts über Wasser halten. Erst spät konnte sie in Wien eine Professur übernehmen (1980), wurde zur Documenta eingeladen (1982, 1997) und auf der Biennale in Venedig (2013) für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Wen Lassnigs "Körperwahrnehmungsbilder", die mit "Schmerz- und Qualfarben" gemalt wurden, wie es die Künstlerin ausgedrückt hat, nicht berühren, der sollte über seine Empathiefähigkeit nachdenken.

Bis 21. Mai. Di, Mi: 10-18 Uhr; Do, Fr: 10-20 Uhr; Sa, So: 10-18 Uhr.

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