„Undine“ bei der Berlinale Es geht ums Ganze – um die Liebe

Berlin · Zwei Glanzstücke sind im Wettbewerb der Berlinale gestartet: der Liebesfilm „Undine“ von Christian Petzold und das politische Gruselstück „Todos os mortos“ aus Brasilien.

 Paula Beer als Undine in einer Szene des Films „Undine“ von Christian Petzold, einem der Höhepunkte im Wettbewerb.

Paula Beer als Undine in einer Szene des Films „Undine“ von Christian Petzold, einem der Höhepunkte im Wettbewerb.

Foto: dpa/Christian Schulz

Am Anfang ein Ende: Christian Petzolds „Undine“ beginnt mit einer Trennung. Johannes macht mit der Titelheldin Schluss, er hat eine andere. Die Situation ist eindeutig, die Phrasen klingen so hohl, wie sie sind, doch dann, plötzlich, sagt Undine: „Du kannst nicht gehen. Wenn du mich verlässt, muss ich dich töten. Wenn du fortgehst, musst du sterben.“ So einfach ist das, und schon sind wir mitten in der Welt des Mythos. Auch da bringt der Wassergeist dem untreuen Gatten den Tod.

Drehbuchautor und Regisseur Christian Petzold („Barbara“) ist ein Meister der kleinen Geschichten. Dass dabei gute Filme entstehen, liegt daran, dass Petzold genau erzählt: Präzise schaut er auf die Wirklichkeit und standhaft verneint er, dass das, was wir als Realität erleben, alles sei. Sein Film „Undine“, der unter viel Applaus im Berlinale-Wettbewerb startete, ist ein Märchen, aber ein Märchen, das auf eine Frage antwortet, die jeder kennt: Ist es möglich, ohne Liebe zu leben?

Was mit dem Fremdgänger Johannes wird, sei hier nicht verraten. Undine (Paula Beer) jedenfalls verliebt sich unter ebenso märchenhaften wie komischen Umständen in den Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski). So idyllisch diese Liebe erscheint, sie ist doch eine zwischen sehr wirklichen Menschen. Die Historikerin Undine arbeitet im Märkischen Museum. Als Expertin für die Geschichte Berlins erklärt sie Touristen und Berlinern die Stadt. Sie erläutert, welche Epoche das Stadtbild prägte, und während die Kamera über die im Museum ausgestellten Stadt-Modelle streift, erzählt Undine vom Werden und Wachsen der Metropole. Paula Beer („Bad Banks“) zeigt, was sie kann; als sachliche Referentin beeindruckt sie ebenso wie als junge, ausgelassene Verliebte. Wenn sie über „das blöde Humboldt-Forum“ ätzt, kommen beide Seiten zusammen.

Franz Rogowski spielt den Christoph wie alle seine Rollen: eher wortarm, demonstrativ authentisch, sinnlich. Christoph arbeitet an der Versetalsperre im westfälischen Lüdenscheid. Unter Wasser kündigen sich die Verwirrungen an, die sein Leben verändern werden. Als er Undine trifft, ist nichts mehr wie zuvor. In einer der schönsten Szenen bittet Christoph Undine, ihm ihr Referat vorzutragen: „Du sagst so schlaue Sachen und so viele davon und auf so schöne Weise.“ Sachlicher Bericht und starke Gefühle werden eins, in das Berlin des trockenen, wissenschaftlichen Überblicks mischt sich die dem Wasser verbundene Dimension der Liebe.

Immer wieder spielt Petzold auf die Klassik und Romantik an, auf Friedrich de la Motte-Fouquet, Hans-Christian Andersen und Achim von Arnim. Undines Nachname Wibeau zeigt sie als Verwandte des Edgar Wibeau aus Ulrich Plenzdorfs „Werther“-Erneuerung – und aus dem Hintergrund winkt Goethe herüber, der ja auch ein Undine-Gedicht verfasste. Dennoch ist „Undine“ kein akademisches Schaulaufen. Es geht um die Liebe, also – wie immer bei Christian Petzold – ums Ganze. Kann man ohne Liebe leben? Es wäre ebenso töricht wie tödlich, es ohne sie zu versuchen. Und so kommt es am Ende dann, wie in jedem Märchen, zu einem neuen Anfang.

Unter allen Filmgenres fällt dem Horrorfilm die Aufgabe zu, die Ängste einer Zeit, einer Kultur als Schreckbilder in Szene zu setzen. So unvermittelt wie unerklärlich ereignet sich das Böse, um am Ende überwunden zu werden. So war das früher. Heute hat sich das Genre von solch finaler Auflösung des Schreckens emanzipiert. Es tut weh, noch lange, nachdem es vorüber ist.

Mit dem Film „Todos os mortos“, ebenfalls im Wettbewerb zu sehen, nehmen Caetano Gotardo und Marco Dutra elementare Facetten des Horrorkinos auf, wenn sie in das Brasilien der vorletzten Jahrhundertwende eintauchen. Die beiden Regisseure haben auch das Buch zu dieser Zeitreise verfasst. In eindringlichen Bildern erzählen sie die Geschichte dreier Frauen der Familie Soares. In Sao Paolo erleben Mutter Isabel (Thaia Perez) und ihre Töchter Maria (Clarissa Kiste) und Ana (Carolina Bianchi) das Ende der Sklaverei auch als den Beginn einer neuen Zeit. Leichter wird es für sie nicht werden. Mit den Machtverhältnissen verschiebt sich die Ökonomie, mit der Wirtschaft verändert sich das kulturelle Selbstverständnis. Am Ende sind auch Leib und Seele nicht mehr das, was sie einmal waren.

  Thaia Perez (l.) als Isabel und Clarissa Kiste als Maria in „Todos os mortos – All die Toten“. Im Gewand eines Horrorfilms erzählt das Werk von Kapitalismus und historischer Schuld.  Foto: Louvart/Dezenove Som e Imagens/Berlinale/dpa

Thaia Perez (l.) als Isabel und Clarissa Kiste als Maria in „Todos os mortos – All die Toten“. Im Gewand eines Horrorfilms erzählt das Werk von Kapitalismus und historischer Schuld. Foto: Louvart/Dezenove Som e Imagens/Berlinale/dpa

Foto: dpa/Hélène Louvart

Das ließe sich vielleicht sachlich und analytisch erzählen, aber Gotardo und Dutra geht es um die weiteren Dimensionen des großen Geschehens. So radikal sich die politischen Verhältnisse ändern, so tief verunsichert das Unbekannte die Zeitgenossinnen. Der Film konzentriert sich auf seine Frauenfiguren; in jeder von ihnen ereignet sich das Neue auch als innere Transformation. Tochter Maria, Nonne und Lehrerin in einer Schule, sieht sich plötzlich mit einer veränderten Schülerschaft konfrontiert. Wo zuvor nur Weiße saßen, sind jetzt auch Schwarze. Aber Marias wahre Verstörung entspringt ihren plötzlichen blasphemischen Anwandlungen.

Nichts passt, nichts stimmt mehr. Während Isabel am Verlust ihrer Privilegien verzweifelt – wer kocht ihr jetzt den Kaffee, wer pflegt jetzt ihre Füße? – gibt sich Marias Schwester Ana als manische Pianistin den Geistern der Vergangenheit hin. In Ana verbinden sich das Gewesene und das Aktuelle, sie erlebt den historischen Widerspruch als Schrecken, denn sie sieht „All die Toten“ – so die Übersetzung des Titels – im Haus, Sklaven, die für den Wohlstand der weißen Oberschicht gestorben sind. Die historische Schuld gebiert den Albtraum. Am Ende schieben sich die Zeiten vollends ineinander, das Gestern erscheint im Heute. Dann aber ist der Schrecken vorbei. Vielleicht wäre ja der wahre Horror, wenn alles so bliebe, wie es ist.

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