Literatur Jahrhundertgeschichte im Familienalbum

Saarbrücken/Losheim · Schauspieler, die auch schreiben: Das ist nicht zwingend eine glückliche Fügung. Christian Berkel aber hat mit seinem Debüt „Der Apfelbaum“ einen aufsehenerregenden Roman über seine Familie verfasst. Jetzt kommt er zu zwei Lesungen ins Saarland.

 Christian Berkel auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2018, wo er seinen biographischen Roman „Der Apfelbaum“ vorgestellt hat. Nun kommt der Autor und Schauspieler zu zwei Lesungen ins Saarland. Am 14. März liest er in Saarbrücken und am 18. März in Losheim.

Christian Berkel auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2018, wo er seinen biographischen Roman „Der Apfelbaum“ vorgestellt hat. Nun kommt der Autor und Schauspieler zu zwei Lesungen ins Saarland. Am 14. März liest er in Saarbrücken und am 18. März in Losheim.

Foto: dpa/Z5327 Soeren Stache

Wer bin ich, präziser wohl, wo komme ich eigentlich her? Irgendwann nagt diese bohrende Selbstbefragung wohl an jedem. Schauspieler Christian Berkel, Stammgast und nichtsdestotrotz ein Charakterkopf in deutschen TV-Produktionen, zugleich aber auch ein Mann fürs internationale Kino an der Seite von Tom Cruise in „Operation Walküre“ etwa und, fast bemerkenswerter noch, perfekt Französisch parlierend in Paul Verhoevens „Elle“, scheute wohl lange, sich seiner Familiengeschichte zu stellen. „Jahrelang bin vor meiner Geschichte davongelaufen. Dann erfand ich sie neu“, vermerkt er geradezu programmatisch auf dem Umschlag seines Debütromans „Der Apfelbaum“.

Ein Spätberufener also, den vor allem auch die fortschreitende Demenz seiner 2011 verstorbenen Mutter Sala Nohl zum Schreiben nötigte. Denn mit dem Nebel über dem Gedächtnis seiner Mutter drohten sich auch ihm die Tore zu seiner Geschichte zu verschließen. Aus dem aber, was seine Mutter noch erinnerte, und dem, was Berkel in vielen langen Archivtagen und auf Reisen durch halb Europa auf der Suche nach seiner Herkunft aufspürte, hat er einen Familienroman verdichtet, der überraschend virtuos drei Generationen überspannt. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs setzt er ein und führt bis ins Heute.

Sicher, der mittlerweile 61-Jährige kann von Glück sagen: Nicht bloß er selbst führt kein Jedermanns-Leben, auch in seiner engeren und ferneren Verwandtschaft drängen sich Persönlichkeiten. Mit dem jüdischen Weber-Fürsten von Lódz Abraham Prussak an der Spitze einer langen Vorfahren-Reihe. Und der Großpapa war gar Anarchist, wenn auch mit großbürgerlicher Wohnadresse: Johannes Nohl liebte Männer wie Frauen, war mit Erich Mühsam befreundet, hüpfte nackt durch den Morgentau am Monte Verità und therapierte später Hermann Hesse.

Die Gattin, Berkels Großmutter, hielt es freilich nicht lange bei diesem Luftgeist. Sie ließ Tochter und Mann in Berlin, kämpfte in Spanien gegen Francos Falangisten. Weshalb Sala bei ihrer Tante in Paris Mutterersatz und 1938 auch Schutz vor der NS-Verfolgung suchte. Und größer hätten die Kontraste unter Schwestern kaum sein können: Die forsche, kalte Mutter vor Madrid auf den Barrikaden, die Tante entwirft in Paris für Hermès Couture und kleidet die Herzogin von Windsor in ihrem eigenen Modehaus ein.

Sala Nohl wird ein Leben lang auf einen halbwegs sicheren Ankerplatz hoffen – ihn aber nicht wirklich finden. In Frankreich landet sie im Internierungslager Gurs, muss zwei Jahre lang jeden Tag um ihr Leben fürchten, bis sie ausgerechnet ins nationalsozialistische Deutschland flieht, bloß ein Rest banger Hoffnung hält sie aufrecht Und es wird nicht ihr letzter Verzweiflungsschritt bleiben: In Argentinien versucht sie nach dem Krieg den Neuanfang. Vergeblich.

Auch Christian Berkels Vater Otto, der sich aus kleinsten Verhältnissen beharrlich nach oben kämpft, der der qualvollen Enge und Armut Berliner Hinterhäuser zu entkommen sucht, Medizin studiert und bald angezogen wird von der jungen Sala und ihrem zunächst gut situierten Leben, hat wenig Zeit, um die Früchte seines Aufstiegs zu genießen. Ihn und Sala reißen NS-Terror und Rassenwahn auseinander. Er muss als Sanitätsarzt in den Krieg, watet im Blut der Verwundeten, landet schließlich in russischer Gefangenschaft, wo sich der Überlebenskampf unerbittlich fortsetzt. Er kann dort nicht der Mann bleiben, der er mal war. Und zurück im zerstörten Berlin heiratet er eine andere, nicht Sala. Bis sie wieder zueinander finden, haben Otto und Sala viel zu viel durchmachen müssen, um einfach glücklich werden zu können.

Christian Berkel, der zuvor nicht als Autor in Erscheinung trat, formuliert mit einem außerordentlichen Gefühl für Tempo und Dramaturgie und trotz der Schicksalswucht auch mit solcher Fabulierlust, dass man beim Lesen immer nur hofft: Dieser Roman, der so unangestrengt überdies europäische und zentrale deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit eingreift, möge nie enden. Verfolgung, Vertreibung, das millionenfache Morden, diese furchtbaren Leitmotive des 20. Jahrhunderts, bleiben in seiner Familiengeschichte stets präsent, aber Berkel versucht nicht als einer von vielen weiteren auch noch darüber zu räsonieren. Die große Geschichte ist ihm, was sie ist.

Die Kritik rühmte Berkels Erzähltalent bislang ohne Ausnahme. Auch wenn einer der Rezensenten monierte, seit der kritischen Theorie, dem Rütteln an den kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen, könne man in Deutschland nicht mehr einfach so historisch erzählen. Will meinen, so glatt, so unterhaltend. Welche Anmaßung, unterstellt dies doch eine Leichtgewichtigkeit, die diesen Lebensgeschichten völlig fern sind. Christian Berkel hat vielmehr einen großen Stoff aufgespürt, bannend verdichtet – und dabei am Ende sich selbst gefunden.

Christian Berkel: Der Apfelbaum, Ullstein, 416 Seiten, 22 Euro.

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