Theaterwunder „Brüder und Schwestern“ wird fortgesetzt

St. Petersburg (dpa) · Mit „Brüder und Schwestern“ begann im sowjetischen Theater 1985 eine neue Zeit. Das monumentale Bauerndrama wird immer noch gespielt, es passt auch in die heutige Zeit. Eine Wiederbegegnung.

Eine Theateraufführung veraltet spätestens nach zehn Jahren, hat der große russische Theatermacher Konstantin Stanislawski einmal gesagt. Am Kleinen Dramatischen Theater in St. Petersburg beweist das Stück „Brüder und Schwestern “ das Gegenteil.

Die legendäre Inszenierung von Chefregisseur Lew Dodin geht mit einer neuen Generation von Schauspielern in ihr viertes Jahrzehnt.

Seit 1985 hat die Saga vom harten Kolchosleben in Nordrussland zu Ende des Zweiten Weltkriegs nichts an Spannung und Wucht verloren. Zwei Abende oder einen langen Tag füllt das monumentale Stück, doch nicht eine Minute davon ist verschenkt. „Es gibt Theaterstücke, an die erinnert man sich ein Leben lang“, schreibt der Kritiker Wladimir Scholtow. Atemberaubend bleiben Szenen wie die Aussaat: Die Bäuerinnen werfen im Takt, mit weiten Gesten, und plötzlich fliegt echtes Getreide ins Publikum.

Viel brauchen die Schauspieler nicht, um den russischen Norden zu beschwören - eine bewegliche Bohlenwand, ein paar Holzstangen, zwei schwingende Hoftore (Bühnenbild: Eduard Kotschergin). Das Geheimnis des Stücks liegt in der Wahrhaftigkeit der Figuren: Jeder Dörfler ist wie aus dem Leben gegriffen. Die Kolchosvorsitzende Anfissa muss ihre hart schuftenden Frauen auf bessere Zeiten vertrösten: „Haltet durch, nach dem Krieg werden wir uns satt essen!“

Der Bauernbursche Michail arbeitet unverdrossen für seine Mutter, die kleinen Geschwister, das ganze Dorf, doch er wird um die Liebe seines Lebens gebracht. Nach dem Krieg, dem großen Sieg, kehren die wenigen Männer zurück, versehrt an Leib und Seele. Unerbittlich presst der Staat den Bauern weiterhin Holz, Getreide und das letzte Geld ab zum Aufbau des Kommunismus. Der Hunger bleibt.

Auf Aktualisierungen hat der Regisseur in der Version von 2015 verzichtet, die Wahrheiten aus dem nordrussischen Dorf gelten auch heute. Das große Russland überfordert seine Menschen, unterwirft sie seinen Zielen und Utopien. Doch die Menschen machen auch einander das Leben schwer, Überleben ist nur mit Gemeinsinn möglich.

Als Dodin das Stück vor mehr als drei Jahrzehnten schuf, fuhr er mit den Schauspielern nach Nordrussland in das Dorf Werkola am Fluss Pinega. Dort lebte der Schriftsteller Fjodor Abramow (1920-1983), der Autor von „Brüder und Schwestern “. Und die großstädtischen Bohemiens lernten, wie die Menschen im Norden zu sprechen, zu singen, sich zu bewegen. Auch von diesem Realismus lebt das Stück.

Bei der Premiere 1985 war „Brüder und Schwestern “ eine Sensation, ein Vorbote der Veränderungen in der Sowjetunion. Noch nie war das Leid sowjetischer Bauern so klar gezeigt worden. Dodins Kleines Dramatisches Theater (Maly Theater ) wurde zur weltoffenen Bühne des Landes, bekam den Ehrentitel „Theater Europas“.

Die Brüder und Schwestern reisten um die Welt, kamen mehrmals auch nach Deutschland. „Das Ensemble überträgt den großen Atem der russischen Epiker auf die Bühne, die Darsteller brillieren bei Volksszenen, die vor Vitalität sprühen“, schrieb die Deutsche Presse-Agentur 1989 über ein Gastspiel in Hamburg.

Für die Menschen in Russlands nördlicher Hauptstadt St. Petersburg lag das fiktive Dorf Pekaschino über Jahrzehnte um die Ecke, sie liebten die Dorffiguren und ihre Darsteller. Zwar fiel es Pjotr Sjomak als Michail immer schwerer, den Satz „Ich bin bald 18 Jahre alt“ zu sagen - auf der Bühne blieb er 30 Jahre lang überzeugend der russische Bauernjunge.

Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes 2015 studierte Dodin das Stück mit neuen Schauspielern ein. Auch mit ihnen pilgerte er in Abramows Heimat. Er wolle den Faden der Generationen aufnehmen, versprach der neue Darsteller des Michail, Jewgeni Sannikow: „Und ich will ihn festhalten, solange die Kräfte reichen.“

Seitdem reden sich Theatergänger in St. Petersburg die Köpfe heiß, wer der überzeugendere Michail, die bessere Anfissa oder Lisa ist. „Viele Darsteller werden in ihre Rollen noch hineinwachsen“, meinte die Zeitung „Nowyje Iswestija“. Die Neuauflage sei kein Abklatsch, auch kein „Denkmal der wunderbaren Vergangenheit“. Sondern: „Das Stück lebt und atmet.“

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