Saarbrücker Ballettpremiere Liebe macht blind und einsam

Saarbrücken · „Spiegelungen“, der neue zweiteilige Ballettabend am Saarländischen Staatstheater, bietet unbekannte Tanzmärchen.

 In der Stijn-Celis-Uraufführung „Shunkin“ tanzte Miyuki Shimizu zum ersten Mal in Saarbrücken. Sie ist eine Idealbesetzung für die Titelrolle.

In der Stijn-Celis-Uraufführung „Shunkin“ tanzte Miyuki Shimizu zum ersten Mal in Saarbrücken. Sie ist eine Idealbesetzung für die Titelrolle.

Foto: Bettina Stoess

Zwei Handlungsballette an einem Abend, das ist für einen Großteil des Publikums wie ein Ballett-Festmahl. Und dann auch noch zweimal das Thema Liebe, wie schön ist das denn?! Doch der Staatstheater-Tanzabend „Spiegelungen“ im Großen Haus erlaubt uns überraschenderweise nicht den Eintritt in die Genusszone behaglicher Vertrautheit. Denn sowohl der Saarbrücker Ballettchef Stjin Celis als auch der Däne Kim Brandstrup griffen nicht nur auf eher parabelhafte, weitgehend unbekannte Erzählstoffe aus fremden Kulturen zu. Sie entschieden sich auch für eben solche Kompositionen. Wann je hörte man Leonard Bernsteins „Dybbuk“-Ballettmusik (1974) in Saarbrücken oder aber zeitgenössische japanische Klassik (Tóru Takemitsu, Toshiro Mayuzumi)? Für das Staatsorchester unter Leitung von Nathan Blair war dies eine – blendend gemeisterte – Herausforderung.

Allein die Musik hielt hellwach. Wer sich durchs Programmheft nicht „aufgeschlaut“ hatte, für den dürfte vieles in den rund einstündigen Stücken zur Rätselei Anlass geboten haben. Denn die Choreografen liefern weder Entschlüsselungen noch Aktualisierungen, ihre Szenerien verharren atmosphärisch entrückt. Brandstrup, dessen „Verweile doch“ den Abend eröffnet, führt uns in eine düstere, bedrückende Friedhof-Szenerie zwischen grauschwarzen Steinblöcken. Die Bühne hat der Lichtdesigner Jean Kalman entwickelt, der dafür seinen Bekannten, den international bekannten Künstler Christian Boltanski, mit ins Boot nahm. Dessen NS-Zwangsarbeiter-Mahnmal in der Völklinger Hütte wird am Mittwoch übergeben. Parallelen sind unverkennbar.

Celis wiederum ruft betörende Kirschblüten-Exotik auf, auch dank der großartigen Kimono- und Samurai-Kostüme der saarländischen Top-Modedesignerin Laura Theiss, die beim Schluss-Applaus am Samstag auf die Bühne kam. Sie sorgte auch für ein Origami-Objekt auf jedem einzelnen Stuhl; ein Begrüßungsgeschenk, als sei man bei einer Fashionshow. Eine gewinnende Geste.

Celis vertanzt in „Shunkin“ die Erzählung „Biographie einer Frühlingsharfe“ von Junichiro Tanizaki (1886-1965), in der es um aufopfernde Liebe, um Macht durch Unterwerfung und die Abhängigkeit einer Stärkeren geht. Tanizaki zeichnet die begnadete, blinde Lautenspielerin Shunkin als grausame, hochmütige Person, die ihren Diener Sasuke (Dean Biosca), obwohl er sie durchs Leben trägt, nie auf Augenhöhe kommen lässt. Celis jedoch leuchtet die Charaktere ein wenig anders aus. Die Domina-Anteile von Shonkin, ihre Lust an der Überlegenheit, man sieht sie hier nicht. Vielmehr hat Sasuke den Fächer in der Hand, mit der er auch mal nach ihr schlägt. Das Staatstheater hat eine Idealbesetzung für dieses Paar, das vom Publikum gefeiert wurde. Die Körper der beiden scheinen ineinander zu fließen: Sie, Miyuki Shimizu, eine Feder, die sich anschmiegt und, für ihn unhaltbar, abrupt wieder verweht wird. Er, Dean Biosca, ein stabiles, zugleich biegsames Netz, das sich um sie spinnt. Die tänzerische Intensität der Pas de deux lässt einem den Atem stocken. Ebenso, welche dezenten, subtilen Körperzeichen Celis insgesamt entwickelt. Shokins Mutter (Alexandra Christian) lässt er auf Spitze tanzen, nein japanisch trippeln. Auch halten die beiden Liebenden die Köpfe aneinander wie siamesische Zwillinge. Oder aber die Männergesellschaft um den glanzvoll auftanzenden Bösewicht Efthimis Tsimageorgis (Ritaro) zeichnet knackig-kantige Figuren in den Raum, die an asiatische Schriftzeichen erinnern. Das Happy End ist hier grausam: Nachdem Shunkin durch den abgewiesenen Verehrer Riitaro entstellt wurde, sticht sich Sasuke die Augen aus, um ihr die Spiegelung zu ersparen. Dies alles ereignet sich vor zwei gigantischen Steinköpfen, die an Buddha-Skulpturen erinnern, eine bühnenhohe Goldwand bringt Luxuriösität; hin und her gerückte beschriebene Buchseiten sorgen für Belebung (Bühne: Sebastian Hannak). Mitunter passiert optisch fast schon zu viel, das ist für den puristischen Celis untypisch. Typisch hingegen sein eher sanft-zurückhaltender Zugriff auf den Stoff. Hier wird nichts forsch aufgebrochen und phantasievoll neu zusammengesetzt. Man vermisst eine Dosis Abgedrehtheit.

Bildgewaltiger und in der Tanzsprache plastischer und kraftvoller erzählt Brandstrup die traurige Geschichte von Lea, die von einem bösen Geist (Dibbuk) befreit werden soll. Sie spielt in einem osteuropäischen Schtetl, das hier eine nebelverhangene Geisterstadt ist. Ein schwarzer Kleiderhaufen, der Holocaust-Assoziationen freisetzt, spuckt Tänzer in langen schwarzen Mänteln aus: marionettenhafte Gespenster, die von Leas totem Geliebten Alexander Andison (Chanan) befehligt werden, und die sich in bedrängendem Wiegen und Wogen immer wieder um Lea (Yaiza Davilla Gómez) scharen. Brandstrups hat dafür beeindruckende synchrone Bewegungsmuster und originelle Tänzer-Konstellationen erfunden. Lea erweist sich als unhaltbar in dieser Gemeinschaft, die sie jagt und zugleich umsorgt. Doch sie endet immer wieder als Einsame, Isolierte. Schutzsuche und Fluchtimpuls zugleich hat Brandstrup dieser Frau, die nicht loslassen will, auf den Körper geschrieben. Ewige Liebe als Gefängnis? Der Abend „Spiegelungen“ erklärt dem Zuschauer die (Liebes-)Welt nicht, es werden Rätsel gestellt.

 Das Bühnenbild von „Verweile doch“, das von Jean Kalman und Christian Bol­tanski stammt, schlägt einen Bogen zum Zwangsarbeiter-Mahnmal in der Völklinger Hütte, das ebenfalls vom Franzosen Boltanski stammt.

Das Bühnenbild von „Verweile doch“, das von Jean Kalman und Christian Bol­tanski stammt, schlägt einen Bogen zum Zwangsarbeiter-Mahnmal in der Völklinger Hütte, das ebenfalls vom Franzosen Boltanski stammt.

Foto: Bettina Stoess

Nächste Termine: 1., 7., 24. und 30. November, Tickets unter (06 81) 3092486.

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