So etwas wie Wahrheit ist immer nur in mehreren Versionen zu haben

Saarbrücken · Heute läuft auch der Dokumentarfilm-Wettbewerb des Ophüls-Festivals an – ein Blick auf vier der anlaufenden, sehenswerten Dokus.

 ,,Wir warten auf eine Welle, die die Welt erschüttert“ heißt es in einem Song-Refrain in Philip Gnadts „Gaza Surf Club“. Foto: Farbfilm Verleih

,,Wir warten auf eine Welle, die die Welt erschüttert“ heißt es in einem Song-Refrain in Philip Gnadts „Gaza Surf Club“. Foto: Farbfilm Verleih

Foto: Farbfilm Verleih

386 Theaterbesucher starben 1881 bei einer Gasexplosion im Wiener Ringtheater am Schottenring 7. Zum Gedächtnis ließ Kaiser Franz Josef am Unglücksort ein "Sühnhaus" errichten. Mit einer von Eigentumswohnungen, in denen keiner wohnen wollte, eingerahmten "Gedächtniskapelle". 1945 ward auch das Sühnehaus, in dem Freud zeitweise eine Praxis hatte, ein Raub der Flammen - vermutlich, weil die Gestapo das benachbarte Polizeihauptquartier samt Verhörprotokollen in Brand setzte. Maya McKechneay geht der Geschichte der Wiener Unglücksadresse in ihrem essayistischen Dokumentarfilm "Sühnhaus" auf den Grund. Ihr gelingt ein detektivisches Stück vielschichtiger, aufwendig in Szene gesetzter (Animationen!, Kamerafahrten!) Historiografie. Das spröde Interieur der Landespolizeidirektion, die heute am Schottenring 7 residiert, fängt Kameramann Martin Putz in erlesenen Bildern ein. McKechneay forscht in Staatsarchiven, studiert alte Baupläne, befragt Historiker, Brandexperten. Unnötigerweise lädt sie ihre Spurensuche mit arg bemüht wirkenden Geisterhaus-Motiven auf und attestiert ihrem Genius loci ein ganzes mentalitätsgeschichtliches Vergangenheitsregister. Unterm Strich dennoch ein anregender, ästhetisch überzeugender Film.

Heute, 17.30 Uhr: CS 5; Mi, 22.15 Uhr: CS 2; Do, 17.30 Uhr: FH; Fr, 19.30 Uhr: CS 5.

Carlotta Kittel (28) stellt in der vielleicht intimsten Wettbewerbsdoku "Er Sie Ich" ihre eigene Zeugungs- und Familiengeschichte aus. Kittels Erforschung der Beziehung ihrer Eltern, die schon vor ihrer Geburt zuende war, setzt konsequent auf ein extrem puristisches Setting: Sofa-Interviews ohne Kamerabewegung, die sie mit beiden getrennt führte, spielt sie dem jeweils anderen vor, zeigt die Reaktionen und praktiziert damit eine Beziehungsaufarbeitung über Bande. So entsteht die Illusion eines "Gespräch(s), das nie geführt wurde", wie es im Festivalkatalog treffend heißt. Kittel wird mit den Worten zitiert, ihr Film sei "nicht autobiografisch zu verstehen". Dabei ist dessen ständige Ich-Kopplung geradezu konstitutiv. Das Gesagte schrammt bisweilen am Selbstdarstellungsgeplantsche Marke Privatsender vorbei. Ist aber hintergründiger. Die Qualität des Films zeigt sich erst, wenn man von der breit gewalzten Ebene des (mit der Zeit ermüdenden) Waschens alter Wäsche absieht. Und den Film als Sprechaktstudie betrachtet. Illustriert er doch die Kommunikation generell überschattende Divergenz der Erinnerung und Wahrnehmung zweier Personen.

Heute, 19.45 Uhr: CS 8; Mi, 15.15 Uhr: CS 5; Do, 21 Uhr: CaZ; Fr, 10 Uhr: CS 2.

Die schönste Szene in Philip Gnadts "Gaza Surf Club" zeigt eine 16-Jährige, die mit ihrem Vater aufs Meer hinausfährt, um dort unerkannt zu surfen. "Möge Alah sich erbarmen", ruft er, als sie ohne Kopftuch loslegt. Ein Moment reinen Glücks. Baden ist Frauen eigentlich verwehrt. Ansonsten taucht der Film in Gaza City, das Israel zum Freiluftknast gemacht hat, in eine reine Männergesellschaft ein. "Wir leben am Meer, aber das Meer ist wie ein Gefängnis", bringt es einer auf den Punkt. Freiheit empfinden Gazas Surfer, die Gnadt unter Vermeidung alles Politischen porträtiert, nur auf ihrem Brett. Kamerafahrten zeigen eine Stadt, die nach Israrels Bombardement 2014 teils in Trümmern liegt, sich aber noch modern hochtürmt. Die allem unterlegte Gitarrenfolklore klingt arg nach beschaulicher Exotik. Den jungen Ibrahim, der in Gaza einen Surfclub aufbauen will, begleitet der Film nach Hawaii, wo er das nötige Knowhow lernen will. Die Gelegenheit, (immerhin klischeelos) zwei Welten zu kontrastieren, lässt sich Gnadt nicht entgehen. Gebraucht hätte dieser Film es nicht, dessen Alltagsbeobachtungen, die Musik ausgenommen, ohne Weichzeichner auskommen.

Heute, 16.30 Uhr: CS 4; Mi, 22.15 Uhr: Achteinhalb; Do, 20 Uhr: CS 5; Fr, 12.30 Uhr: CS 2.

2010 wurden die jahrzehntelangen Missbrauchsfälle an der für ihre Reformpädagogik berühmten Odenwaldschule publik - elf Jahre (!), nachdem die "Frankfurter Rundschau" erstmals berichtet hatte. Florian ("Flo") Lindemann, bis 1972 selbst Schüler dort und noch Jahrzehnte später deren pädophilem Leiter Gerold Becker verbunden, hatte damals in einem Leserbrief die Berichterstattung der "FR" scharf kritisiert - ein Brief, der sein Leben veränderte und (vermutlich) vorzeitig beendete. Julian Vogels Ludwigsburger Diplomfilm "Bilder vom Flo" liefert eine glänzende, behutsame Vergegenwärtigung dessen, was die Existenz des Spät-68ers und Ex-Geschäftsführers des Frankfurter Kinderschutzbundes zerstörte. Ein Jahr, nachdem letzterer ihn auf dem Höhepunkt des Odenwaldschule-Skandals fristlos kündigte - zuvor war sein Leserbrief von 1999 publiziert worden - erlag Flo im August 2011 beim Joggen einem Herzinfarkt. Weil sein Herz gebrochen war?, fragt sich Sohn Max, bester Freund des Regisseurs. "Die Dinge falsch benennen, heißt das Unglück der Welt vergrößern" - wie sehr Camus' dem Film als Motto vorangestellter Satz in doppelter Weise auf Lindemann zutrifft, zeigt Vogels Film. Gekonnt collagiert er Film-, Foto- und Tonmaterial aus Flos Archiv mit Eindrücken der Hinterbliebenen (Flos Frau, ihre Kinder Max & Nick, ein Freund Flos). Mustergültig zeigt der Film, wie komplex Wahrheiten sind.

Heute, 20 Uhr: CS 5; Do, 14.45 Uhr: CS 2; Do, 22.15 Uhr: Achteinhalb; Sa, 17.30 Uhr: CS 8.

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