So ein Bauchgefühl

Saarbrücken · Das gab es wohl noch nie in einem Buch: Der Embryo in Ian McEwans Roman „Nussschale“ macht sich so seine Gedanken über die Welt. Ein humorvoller Roman – und zugleich ein recht bitterer Zeitkommentar.

Ein Ungeborener als "Held" eines Romans? Auf die Idee muss man erst mal kommen. Der britische Autor Ian McEwan, 68, erzählt in Interviews gern, dass er eines Tages in seinem Notizbuch blätterte und den Satz fand: "So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau." Es ist der erste Satz in diesem unterhaltsamen Buch.

Der Ich-Erzähler hat noch keinen Namen, keine Nationalität, keine Religion. Er ist reine Existenz. McEwan lässt den männlichen Fötus denken, abwägen, analysieren, erleben, entsetzt und ängstlich sein und die Gespräche seiner Mutter belauschen im "Waschmaschinenlärm von Magen und Gedärm". Bei der Ernährung kommt er auch nicht am Alkohol vorbei. "Ich teile mir gern ein Glas Wein mit meiner Mutter... wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt", schwärmt er. Beim Sex allerdings, den seine Mutter mit einem Mann hat, der nicht der Vater des Fötus ist, wird es eher unangenehm. Erst schaukelt es, aber wenn die Mutter ihren Körper dem Orgasmus entgegentreibt, wird es schauerlich.

Da kennt ein Kind die Welt noch nicht, wird aber durch verzwickte Umstände zum Nachdenken gezwungen. Der Uterus ist seine Nussschale, hier wird das Ungeborene ganz früh von menschlicher Schuld überschwemmt. Die Nussschale hat McEwan von Hamlet entlehnt, aus dem Drama des Brudermords am dänischen Königshof. "O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären."

So spricht der dänische Prinz, dessen Ahnungen ihn Schlimmes erwarten lassen. In London erwartet der Fötus das Allerschlimmste: John, sein Vater, soll ermordet werden. Seine Mutter ist die Anstifterin. Sie hat ein Verhältnis mit Claude, dem Bruder ihres Mannes und Kindserzeugers. Sie mag den Gatten nicht mehr, weil er sich als Lyriker mit einem Kleinverlag und idealistischen Ideen herumschlägt und sie nicht mal in der Schwangerschaft verwöhnt. Da sie nun mit Claude, Immobilienentwickler und Sexkanone, angebändelt hat, muss einer raus aus der Dreiecksgeschichte. Der Tötungsaufwand lohnt sich: John besitzt in London eine Immobilie, die zwar saniert werden müsste, aber Millionen Pfund bringen könnte. Die Mörder in spe haben ausgeheckt, wie John aus dem Weg geräumt werden soll - mit einem Smoothie, angereichert mit Frostschutzmittel. Claude wird krass geschildert von seinem Autor, er rede nur "fades, saftloses Gesülze", habe keine geistige Haltung und an nichts mehr Interesse als an Geld und Sex.

Der Fötus leidet. "Ich beginne, meine Situation zu begreifen, kann denken ebenso wie fühlen", grübelt der Ungeborene. "Also. Meine Mutter hat meinem Vater den Bruder vorgezogen, ihren Mann betrogen, ihren Sohn ins Unglück gestürzt. Mein Onkel hat seinem Bruder die Frau gestohlen, den Vater seines Neffen hintergangen, den Sohn seiner Schwägerin zutiefst beleidigt. Mein Vater ist von Natur aus schutzlos, ich bin es durch die Umstände." Am Übelsten nimmt der Kleine im Bauch, dass Claudes Penis so nahe an ihn herankommt.

Das Buch hat ironische und komödiantische Elemente, baut aber auch eine aberwitzige Spannung auf, die das literarische Experiment trägt. In Wahrheit denkt hier der Autor als Zeitgenosse über unsere Epoche und den Zustand der kapitalistischen Konsumwelt nach. Dem entgegen stellt er die Poesie des ungeborenen Helden. Der erfährt über Radio und Podcasts seiner Mutter von der politischen Realität. So wird er auf eine Welt vorbereitet, für die er sich rüsten muss, um in künftigen Miseren durchzukommen. Das ist alles raffiniert hineingemischt in den Roman, der so zum humorvollen, aber letztlich bitteren Zeitkommentar wird.

Ian McEwan: Nussschale. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, 277 Seiten, 22 Euro.

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