Schreiben als beste Art zu schweigen

Saarbrücken · Zeitlebens hat Ilse Aichinger nur einen Roman geschrieben: „Die größere Hoffnung“ (1948) zählt bis heute zu den wegweisenden deutschsprachigen Romanen der Moderne. Nun ist sie mit 95 Jahren gestorben – eine Würdigung.

Ilse Aichinger, am 1. November 1921 in Wien als Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin geboren, hatte unter dem Stigma des "Mischlingskindes" erheblich zu leiden. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland lebte sie völlig isoliert von der Öffentlichkeit, das angestrebte Medizinstudium wurde ihr verwehrt. Sie musste miterleben, wie nahe Verwandte von der Gestapo deportiert und später ermordet wurden. Ihre Zwillingsschwester Helga war früh nach London geflüchtet.

"Eines Tages meldete sich bei uns, auf Empfehlung des Wiener Kritikers Hans Weigel, ein bildschönes, dunkelhaariges Mädchen, krampfhaft ein Papierbündel unter dem Arm haltend." So erinnerte sich der Verleger Gottfried Bermann-Fischer an seine erste Begegnung mit der jungen Aichinger. Hinter dem "Papierbündel", das die Autorin beim Treffen 1947 in Wien mit sich trug, verbarg sich das Manuskript ihres einzigen Romans "Die größere Hoffnung", der ein Jahr später bei Fischer publiziert wurde. Ein Buch zwischen Hoffen und Bangen, das um das Schicksal eines jüdischen Mädchens während der Nazi-Zeit kreist. In ihrem Debüt hat Ilse Aichinger nicht zuletzt ihre eigene bewegte Kindheit (leicht verfremdet) aufgearbeitet und gleichermaßen subjektive, wie kollektive literarische Trauerarbeit geleistet. "Vielleicht schreibe ich nur deshalb, weil ich keine bessere Möglichkeit zu schweigen sehe", hatte sie 1971 bei der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises erklärt.

Der literarische Durchbruch war ihr 1952 gelungen, als sie auf der Tagung der Gruppe 47 nach der Lesung ihrer "Spiegelgeschichte" frenetisch gefeiert und als Nachfolgerin von Heinrich Böll und ihres späteren Ehemannes Günter Eich als dritte Preisträgerin der "meinungsbildenden" Elitegilde gekürt wurde. Die radikale Verknappung der Texte und der sezierende Blick hinter Fassaden prägten ihr Werk. Hartnäckig hat Aichinger, die zuletzt 2000 den Joseph-Breitbach-Preis erhielt, allen literarischen Trendwenden die kalte Schulter gezeigt. Respektable Erfolge hatte sie mit ihren Hörspielen, die ihr (und ihrem 1972 verstorbenen Ehemann Günter Eich) das materielle Überleben sicherten. Nach dem Unfalltod ihres ebenfalls als Autors tätigen Sohnes Clemens Eich 1998 zog sie sich aus der Öffentlichkeit fast völlig zurück. Nun ist sie in Wien, wenige Tage nach ihrem 95. Geburtstag, gestorben.

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