Ab Donnerstag im Kino Der pure Schlingensief – ein Glücksfall

Saarbrücken · Er rüttelte auf, amüsierte, provozierte – und nervte ganz bewusst. Vor zehn Jahren starb der multimediale Künstler und Performer Christoph Schlingensief an Krebs. Eine herausragende Doku über ihn startet in Saarbrücken.

 Christoph Schlingensief (1960-2010) auf einem Streifen Filmmaterial – der Künstler arbeitete mit und in allerlei Medien und Formaten.

Christoph Schlingensief (1960-2010) auf einem Streifen Filmmaterial – der Künstler arbeitete mit und in allerlei Medien und Formaten.

Foto: Filmgalerie 451

Im Oktober 2020 wäre er 60 Jahre alt geworden, dabei durfte er nicht einmal mehr seinen 50. Geburtstag feiern. Am 21. August 2010 starb der multimediale Künstler und Performer Christoph Schlingensief an den Folgen der Krebserkrankung, der seine Arbeiten in den beiden letzten Lebensjahren galt: „Mea Culpa“ und „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Schlingensief war ein Solitär, kam aus keiner Schule, bildete keine Schule und ist heutzutage bestenfalls noch eine etwas unscharfe Erinnerung an eine Dauer-Power-Performance auf vielen Kanälen.

Als er, der Apothekersohn aus Oberhausen, starb, konnte er auf 40 Jahre künstlerisches Schaffen zurückblicken. Seinen ersten Film drehte Schlingensief, Jahrgang 1960, im Jahre 1968 – mit einer Kamera, die alle zehn Sekunden neu aufgezogen werden musste, was dem Regisseur ein Improvisieren mit einer bewusst fehlerhaften Stop-Motion-Technik abverlangte. Fasziniert staunte der junge Schlingensief über die Effekte reizvoll-seltsamer Doppelbelichtungen fehlerhaft behandelter Urlaubsfilme seines Vaters.

Die Cutterin Bettina Böhler, die schon mit Schlingensief selbst arbeitete („Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“, „Die 120 Tage von Bottrop“), hat sich daran gemacht, das Leben und die Arbeiten Schlingensiefs noch einmal in gut zwei Stunden Revue passieren zu lassen: von den Anfängen 1968 bis zum Finale 2010. Ein Glücksfall, denn Böhler hatte offenkundig vollen Zugriff auf das Archiv, nutzte kenntnisreich und gewitzt Material aus Privatfilmen der Familie Schlingensief, Interviews, Talkshow-Auftritten, TV-Berichten, Ausschnitten aus Spielfilmen, Theaterinszenierungen und -proben, den späten Kunstinstallationen und den visuellen Tagebuchnotizen des Erkrankten.

„Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ ist auch insofern ein Glücksfall, als Böhler komplett darauf verzichtet, ihren Protagonisten mit Zeitzeugen und Weggefährten zu umstellen, die ihren Senf dazugeben. So gibt es hier Schlingensief ziemlich pur: Von den Anfängen als recht selbstbewusstes und aufgekratztes Einzelkind, über die das Publikum polarisierende Filmarbeit, die Hinwendung eines Verächters des Theaters zum Theater und zur Oper (Bayreuth) bis hin zu den experimentellen Fernseharbeiten und schließlich den Plänen für ein Festspielhaus in Afrika.

Es dürfte nicht allzu viele Menschen geben, die das Gesamtwerk überschauen, zumal ja die Filme bis heute keine vollständige Retrospektive erfahren haben, Theaterinszenierungen und Kunstinstallationen zumeist ortsgebunden sind und keine Monografie zum Werk vorliegt. Dahin ist dieser Film nun ein erster Schritt. Man kann verfolgen, wie treffsicher Schlingensief überlieferte Formate derart zu überschreiben vermochte, bis sie wieder produktiv wurden.

Später schaffte er es instinktsicher und höchst effektiv, Fernsehformate wie „Big Brother“, die Talkshow oder auch die Quizshow („Sortieren sie bitte folgende vier Konzentrationslager in der richtigen Reihenfolge von Nord nach Süd!“) entweder zu politisieren oder zu demaskieren. Auf der „documenta“ 1997 wurde er für das Skandieren des Slogans „Tötet Helmut Kohl!“ kurzzeitig festgenommen und schüttete Jürgen Möllemann für dessen antisemitische Impulse tote Fische in den Vorgarten.

Unvergessen die Gründung der Partei „Chance 2000“ mit dem Slogan „Scheitern als Chance“ und dem Aufruf an alle Arbeitssuchenden, den Kanzler im Urlaub am Wolfgangsee zu besuchen und durch ein gemeinsames Bad den dortigen Wasserpegel so zu heben, dass der Regierungschef nasse Füße bekommt.

Böhler kennt ihr Material so gut, dass es ihr gelingt, auch höchst unterhaltsame Volten anzubieten. Etwa die Marotte des Filmemachers, bei Besuchen seiner Eltern immer eine Kamera dabeizuhaben und sie in der Begegnung zu konfrontieren. Auch bei einer Feier hält der Sohn eine Rede, und man bemerkt, wie Familie und Bekanntschaft darauf hoffen, dass der Junge jetzt nichts „Falsches“ sagt – also etwas Wahres.

  Die Regisseurin und Cutterin Bettina Böhler, die mehrmals mit Christoph Schlingensief zusammmengearbeitet hat.

Die Regisseurin und Cutterin Bettina Böhler, die mehrmals mit Christoph Schlingensief zusammmengearbeitet hat.

Foto: Angelina Maccarone

„Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ läuft ab Donnerstag im Saarbrücker Filmhaus.

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