Sachsen versinkt, und Kafka macht Turnübungen

Saarbrücken · Gefühlsbewegt und sprachmächtig schildert Durs Grünbein in „Die Jahre im Zoo“ seine Jugend in Dresden, wo er 1962 zur Welt kam. Das Buch stellt der Georg-Büchner-Preisträger Grünbein am Mittwoch in Saarbrücken vor.

Seine Mutter hat ihn mal verdroschen. Das nimmt Durs Grünbein ihr immer noch übel. Es war im 20. Jahrhundert, einer fernen Zeit, doch der Autor will auch das vermerkt haben. Eine Biographie ist eine Nacherzählung, Fiktion mischt sich mit real Erlebtem. Um da nicht über die Stränge zu schlagen, erinnert sich der Biograph seines Lebens auch an die Tracht Prügel, die wehtat. Im Buch wechseln Prosatexte mit Langgedichten, es gibt essayistische Teile und solche, die komisch sind. "Einmal die Kindheit aufzuschreiben, das hatte ich mir lange vorgenommen", schreibt Grünbein. "Der Wunsch ist fast so alt, wie ich es nun selber bin." Die eigene Jugend soll dadurch bewahrt werden. Die Reifejahre in einer "vor sich hin dämmernden Geisterbahnwelt", der DDR.

Der 1962 in Dresden Geborene war in sie hineingeboren, sein Schicksal, solange die Grenzen nicht offen waren. Dort leben zu müssen, war auch eine "verlorene, verlogene, sinnlos verplemperte Zeit". Zugleich hat sie seine Neigung zum Dichten hervorgebracht. Das dankt er ihr.

Grünbein lebte mit den Eltern im Dresdner Vorort Hellerau. Eine Lebensreformsiedlung, 1909 gegründet, mit vielen Künstlern. Er zählt viele auf, um bei einem zum Bekenner zu werden. Kafka hat es Grünbein angetan, der Prager Dichter lebte einige Zeit in Hellerau, machte am offenen Fenster Turnübungen und flirtete mit Felice Bauer, die er dann doch nicht heiratete. Grünbein sieht im heruntergekommenen Hellerau seiner Jugend den Niedergang, den Kafka als Fixpunkt überstrahlt. "Ödeste Staatlichkeit legte sich wie Mehltau über die kleine Kommune", schreibt er, "das missglückte sächsische Utopia versank in Spießertum und Tristesse". Als 17-Jähriger fährt Grünbein nach Prag, hält dort Andacht an Kafka-Stätten und treibt in Antiquariaten Bücher seines Idols auf. Das verlieh dem Leben Sinn.

Dresdner Schlaglöcher

Der Titel "Jahre im Zoo" bezieht sich auf den Tierpark, in dem der Autor als Kind oft war, um nicht nur die industrieverdreckte Stadt und die schlaglochübersäten Straßen vor sich zu haben. Erinnerungen mit Wiedererkennungswert sind Grünbein wichtig. Seine Rückkehr nach Hellerau, Orte der Kindheit, Herumtoben nach der Schule, Streifen durch eine ramponierte Möbelfabrik, die einstigen Russenkasernen - das öffnet Grünbeins Herz. Dabei spricht er sich mit "du" an. Und prüft seine Erinnerungen. "Kennst du das?" geht er sich an. "Wenn dir klar wird, dass du vergessen hast, wer du einmal warst? So viele Bewusstseinsstadien, so viele Ansichten von ein und derselben Person und stets war sie ein anderer und sagte und schrieb doch immer treuherzig: Ich." Der Dichter hat sich das Träumen erlaubt, ist aber nicht aus der Welt gefallen.

Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo. Suhrkamp, 400 Seiten,

44 Abbildungen, 24,95 Euro.

Lesung: Mittwoch, 20 Uhr, im Saarländischen Künstlerhaus.

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