Diskussion um Ehrung von Robert Menasse Den Begriff „Nation“ hinterfragen, nicht verteufeln

Berlin · Friedenspreisträgerin Aleida Assmann nennt die aktuelle Diskussion um den Fall Menasse einen „Denkzettel“ für die Linke.

 Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann

Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann

Foto: dpa/Arne Dedert

Die Kulturwissenschaftlerin und Friedenspreisträgerin Aleida Assmann hat den Fall Menasse (wir berichteten) als „Denkzettel“ für die Linke und bürgerliche Intellektuelle bezeichnet, die sich nach 1968 nicht um den Begriff der Nation gekümmert hätten. Auch hätten sie sich nicht mit diesem Begriff identifiziert, sagte Assmann der „Welt am Sonntag“. Sie selbst zähle sich dazu. Assmann appellierte an die bürgerliche Mitte, sich dringend mit ihrem Verhältnis zur „demokratischen Nation“ auseinanderzusetzen und dies nicht Rechtsradikalen zu überlassen.

Der österreichische Autor Robert Menasse steht in der Kritik, weil er Zitate des CDU-Europapolitikers Walter Hallstein (1901-1982) erfunden hat und dessen Antrittsrede als erster europäischer Kommissionschef 1958 nach Auschwitz verlegt hat – nicht nur im Roman, sondern auch in Reden und Essays. Menasse, Gewinner des Deutschen Buchpreises 2017, zitierte Hallstein fälschlich unter anderem mit dem Satz, die Abschaffung der Nation sei die europäische Idee, und führte ihn so Zeugen für sein eigenes Projekt einer Überwindung der Nationen in Europa ins Feld.„Es ist symptomatisch für unsere Gesellschaft, dass viele Deutsche mit dem Begriff der Nation nichts anfangen können“, sagte sie. „Wenn wir Europa retten und stärken wollen, müssen wir dringend anfangen, über unser Verhältnis zur demokratischen Nation zu sprechen. Aufgrund unserer Geschichte haben es die Intellektuellen nicht vermocht, zu einem positiven Nationen-Begriff zurückzukehren, der mit unserer Verfassung, Gewaltenteilung, Menschenrechten und gerade auch mit kultureller Vielheit verbunden ist.“ Dies seien alles „Dinge, die wir täglich genießen, ohne sie uns bewusstzumachen und wertzuschätzen – wie lange noch?“ fragte Assmann, die 2018 zusammen mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt.

„Wo immer das Wort ‚Nation‘ auftaucht, klingeln bei den Linken alle Alarmglocken“, kritisierte die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. „Man hält sich für kritisch, weil man den Begriff verteufelt und gar nicht mehr weiterfragt, worum es eigentlich geht.“ Sie habe erlebt: „Wer Begriff und Sache der Nation so einfach aufgibt, überlässt sie den Geschichtsfälschern und Gegnern der Demokratie“, so Assmann.

Menasses von Historikern widerlegte Behauptung der Hallstein-Rede in Auschwitz bezeichnete sie als künstlerischen „Gegenentwurf“, als eine „Geschichte im Konjunktiv“: „Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn sich die EU bereits 42 Jahre früher auf diese Orientierung geeinigt hätte?“ Menasse habe aber nicht nur einen Roman geschrieben, sondern sei auch zum Aktivisten des politischen Programms der Abschaffung der Nationalstaaten in Europa geworden. In dieser Rolle trete er als Polemiker und alleiniger Inhaber einer Wahrheit auf. „Wenn er dann noch denen, die ihm nicht folgen wollen, vorwirft, das Lager der Nationalisten zu stärken, wird er zu einem Polarisierer, der Fronten aufbaut“, sagte Assmann, die sich seit Jahrzehnten mit Erinnerungskultur beschäftigt. „Das geht weit über die Rolle des Künstlers hinaus.“

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