Buchkritik zu Achim Landwehrs „Diesseits der Geschichte“ Jede Geschichte hat mehr als eine Geschichte

Saarbrücken · Ist Geschichte eine Sammlung von Zahlen und Fakten, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat? Überhaupt nicht, argumentiert der Historiker Achim Landwehr – für ihn ist Geschichte ein Prozess im ständigen Wandel.

 Autor: Achim Landwehr. Foto: Stefan Gelberg. Das Foto ist honorarfrei für Presse und Werbung des S. Fischer Verlages. Bitte geben Sie den Bildnachweis an. Andere Nutzungen sind honorarpflichtig. Kontakt: Stefan.Gelberg@fischerverlage.de

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Foto: Foto: Stefan Gelberg/Stefan Gelberg

Was wir Geschichte nennen, ist kein Ganzes, in dem unsere millionenfachen Einzelschicksale vereint, aufgehoben und abrufbar sind als eine gemeinsame, lineare, verlässliche und leicht abzuspulende Geschichte – festgemacht an historischen Daten, Ereignissen und Persönlichkeiten. Was wir so leichthin Geschichte nennen, als gäbe es dieses eine, nicht anzweifelbare kollektive Gedächtnis, unterliegt in Wahrheit vielmehr einem permanenten Wandel und ist für jeden von uns im Grunde immer eine andere Geschichte.

Diese erfrischende, unserer tatsächlichen Weltaneignung nahekommende These vertritt seit einigen Jahren der Düsseldorfer Historiker Achim Landwehr. In seinem jüngsten Buch „Diesseits der Geschichte“ bündelt Landwehr noch einmal seine überzeugenden und außerordentlich anregenden Argumente, um eine nicht-lineare Geschichtswissenschaft zu etablieren und dem angeblichen „Kollektivsingular“ Geschichte den Garaus zu machen.

Gleich zu Anfang macht Landwehr klar, dass die soziale und kulturelle Bedingtheit dessen, was wir Geschichte nennen, üblicherweise ausgeblendet und stattdessen so getan wird, als gäbe es einen objektiven historischen Verlauf. Doch ungeachtet aller Vereinheitlichung unserer Zeitmessung und Zeitorganisation und aller Zeitstrahl-Illusionen: Tatsächlich gibt es keine für uns alle gleichermaßen gültige Zeiterfahrung, weil sich jeder unentwegt seine eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstruiert. „Man könnte auch sagen: Die Zeiten ändern sich mit der Zeit. Bestimmte Begebenheiten in der Gegenwart können die Vergangenheiten und Zukünfte eines Systems total verändern“, zitiert Landwehr den Soziologen Armin Nassehi, der vor Jahren für seine Profession – die Soziologie – eine ganz ähnliche Theorie der Zeit wie Landwehr entwickelt hat.

So wie man also zu unterschiedlichen Zeiten, ja manchmal auch an einem einzigen Tag anders auf sein Leben oder das Jetzt blickt, so unterliegt auch der Blick auf unsere Umgebung oder das große historische Ganze einem beständigen Wandel. Landwehr prägt dafür den Begriff der „Pluritemporalität“. Völlig zu recht konstatiert er: „Gesellschaften leben nicht im Kokon eines einheitlichen Zeitregimes, kennen also nicht nur eine singuläre Form der Gleichzeitigkeit, sondern pflegen zahlreiche, parallel zueinander bestehende Zeitformen, existieren also in einer Welt der Vielzeitigkeit.“

Lässt man sich auf diese Sichtweise ein, werden sogleich die weitreichenden Folgen dieses zeitlichen Relativismus deutlich: Historische Vorgänge lassen sich dann ebenso wenig noch monokausal (bzw. unilinear) deuten noch in ,,epochale Zwangsjacken“ (Landwehr) stecken. Mit anderen Worten: Fortan entfällt eine starre Deutungshoheit über die Lesarten der Geschichte. Dementgegen entpuppt sich unser Blick auf die Vergangenheit als das, was er de facto auch ist: nämlich als interessengeleitet und zeitgebunden. Dies aber bedeutet, dass unsere Zeit- und Geschichtsvorstellungen reversibel sind: Jede Zeit konstruiert sich ihre eigene Vergangenheit. Genauso wie jedes Individuum sich seine eigene Gegenwart schafft. Sollten wir mithin allem zwei Zeitbegriffe zugrundelegen? Etwa in dem Sinne, wie der Philosoph John McTaggart von den „A- und B-Serien der Zeit“ sprach? Das heißt: Während wir Zeit subjektiv als permanenten Veränderungsprozess wahrnehmen (die A-Seite), halten wir andererseits an scheinbar objektiven, temporalen Ordnungen wie Daten oder historischen Zuordnungen fest (die B-Seite).

Nein, Landwehrs geschichtsphilosophischer Ansatz geht weit darüber hinaus. Vergangenheit und Zukunft stellen für ihn immer nur „Horizonte der Gegenwart“ dar. Das (Erkenntnis-)Licht, das auf diese Horizonte fällt, verändert sich und ergibt folglich immer ein anderes Bild: Nicht nur das Hier und Heute wird unentwegt moduliert, es bringt unter der Hand auch immer neue Vergangenheiten und Zukünfte hervor. Für dieses uns eigentlich allgegenwärtige Phänomen hat Landwehr den Begriff der Chronoferenz geprägt. Gemeint ist damit, dass wir nicht-gegenwärtige Zeiten auf eine Weise imaginieren, die sie zugleich anwesend und abwesend sein lassen. Abwesend deshalb, weil sie nicht mehr (oder noch nicht) wirklich sind. Und anwesend, weil wir sie aktualisieren, sie aus unserer heutigen Perspektive neu betrachten und umdeuten. Wobei noch dazu die Vergangenheit unentwegt wächst, während die Gegenwart beständig verschwindet.

Was heißt das nun für unsere Erkenntnisprozesse? Für Landwehr folgt daraus, dass alle Beschreibungen der Vergangenheit oder Zukunft immer nur an frühere Beschreibungen derselben anschließen können. Weshalb Geschichtswissenschaft für ihn konsequenterweise eine Gegenwartswissenschaft ist, weil Historiker es nicht mit abgeschlossenen Vergangenheiten zu tun hätten, sondern „mit gegenwärtigen Bezügen auf abwesende Zeiten“. Nach Ansicht Landwehrs handelt es sich dabei um einen wechselseitigen Prozess: „Eine bestimmte Gegenwart ist also nie die alles dominierende Spinne im Netz der Chronoferenzen. Die Bezüge bereits etablierter Chronoferenzen reichen vielmehr immer schon in eine Gegenwart hinein, indem Pfadabhängigkeiten gelegt und Strukturen bereits festgeschrieben wurden.“ Gegenwart schließt Vergangenheit also nicht ab, sondern erneuert sie.

Wie meinte schon Herder vor 200 Jahren: „Keine zwei Dinge in der Welt haben dasselbe Maß der Zeit (….) Es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten.“ Statt Geschichte also chronologisch und konsekutiv zu erzählen, wäre es mit Landwehr zu sprechen daher weitaus angemessener, die heute verpönten Anachronismen wieder ins Recht zu setzen, weil sie das widerspiegeln, was Landwehr uns nahelegt: Zeit als Möglichkeitsbedingung für Widersprüche zu verstehen.

 Achim Landwehr

Achim Landwehr

Foto: Wallstein Verlag
 Abseits der Zahlen und Fakten ist Geschichte etwas höchst Subjektives, was sich ständig wandelt. Unser historisches Foto zeigt die Ludwigskirche in Saarbrücken nach einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg.

Abseits der Zahlen und Fakten ist Geschichte etwas höchst Subjektives, was sich ständig wandelt. Unser historisches Foto zeigt die Ludwigskirche in Saarbrücken nach einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg.

Foto: Sammlung Fritz Mittelstaedt, Stadtarchiv Saarbrücken

Achim Landwehr: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie. Wallstein Verlag, 380 Seiten, 28 €.

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