Literaturfestival „ErLesen!“ Heimlichkeiten machen auch nicht heimisch
Saarbrücken · Festival „ErLesen!“: Reinhard Kaiser-Mühleckers bemerkenswerter Roman „Enteignung“, aus dem er nächste Woche in Saarbrücken liest.
Er ist auf einem Bauernhof in Oberösterreich aufgewachsen, hat später in Wien Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung studiert, sich dann aber früh der Schriftstellerei verschrieben. 2008, damals war er gerade mal 26 Jahre alt, erschien sein erster Roman „Der lange Gang über die Stationen“, dem bis heute sechs weitere folgten – zuletzt vor ein paar Wochen „Enteignung“, aus dem Reinhard Kaiser-Mühlecker kommende Woche im Rahmen der 2. saarländischen Literaturtage lesen wird. Wie alle seine bisherigen Romane wird auch der jüngste wieder von der Kritik gefeiert (und steht bereits auf Platz zwei der SWR-Bestenliste).
Das Werk dieses jungen Autors ist schon deshalb interessant, weil es sich, lange vor der wieder in Mode gekommenen Wiederentdeckung der Provinz, von Beginn an konsequent der Enge und Verschrobenheit ländlicher Räume verschrieben hat – wohl wissend, dass in der vermeintlich rückständigen Provinz (wie sollte es auch anders sein?) nicht minder Existenzielles geschieht wie in Metropolen, in denen die heutigen Autoren-Kohorten normalerweise ihr literarisches Auskommen suchen.
In seinem jüngsten, in einem 1000-Seelendorf irgendwo im Voralpenland spielenden Roman schickt Kaiser-Mühlecker seinen Ich-Erzähler diesmal als Aushilfe in einen Schweinemastbetrieb. Eigentlich arbeitet Jan, der vor seiner Rückkehr in das Dorf seiner Kindheit als Journalist auch große Blätter bestückt hat, als Reporter und Kolumnist für ein Provinzblatt, das seinen Auflagenverlust durch das Bedienen niederster Instinkte auf Kosten journalistischer Seriosität abzuwenden sucht. In den Journalismus war Jan – ein nicht sehr feinfühliger Pragmatiker, der sich, Konflikte großzügig umschiffend, durchs Leben laviert – genauso zufällig hineingerutscht, wie es ihn nun auf diesen Bauernhof verschlägt. Die ihn antreibenden Motive bleiben diffus – will er mehr erfahren über die heimliche Liaison des Bauern Flor mit der alleinerziehenden Lehrerin Ines, mit der Jan selbst regelmäßig ins Bett geht? Oder sich von Flor, einst sein Schulkamerad, demütigen lassen, wie er selbst andeutet? „Warum wollte ich das? Er sollte von Ines lassen, sollte das Feld räumen, und das schien mir die Vorbereitung darauf zu sein.“
Kaiser-Mühleckers Erzählerfigur Jan, deren frühes Trauma eher beiläufig eingestreut wird (nach einem Bootsunfall, bei dem seine Eltern starben, wuchs er als Waise bei seiner Tante auf, die ihn fortan von allen Vulgaritäten fernzuhalten suchte), lässt sich in seiner inneren Ziellosigkeit durchaus als Prototyp der Unbehausten von heute lesen. „Eines von allem ein wenig Gelangweilten“, der auf seiner Lebensroute eher ziellos die Spur wechselt oder abbiegt. „Was war mit mir geschehen, dass ich plötzlich so empfand? Darauf gab es keine Antwort, es war so“ – in dieser Art konstatiert er Mal um Mal das eigene Tun. Alle Figuren des Romans umgibt eine Ausweglosigkeit, die sie als gegeben hinnehmen: Flor und seine Frau Hemma arbeiten auf ihrem Hof tagein, tagaus 18 Stunden lang selbstvergessen gegen die landwirtschaftliche Krise an, die sie mit ihrem Schweinemastbetrieb zu immer neuen Investitionen nötigt, um ihren Ruin abzuwenden und sie damit doch nur immer tiefer in diesen hineintreibt. Die ihre Kinder sich weitgehend selbst überlassende Ines wiederum, die sich jeden Sonntag mit Flor in einer Waldhütte zum Sex trifft und ansonsten notorisch Gin-Cocktails schlürft, folgt einzig und allein ihren Launen. Dass es ihr, wie Jan erkennt, „völlig einerlei war, ob ich gleich mit ihr ins Bett gehen würde oder wieder fuhr, übte auf mich eine solche Anziehung aus“, dass er ihr eine Weile erliegt.
Aus dem flirrenden Stillstand, den all diese Konstellationen aufgrund ihrer Unberechenbarkeit zeitigen, entwickelt der Roman Stück um Stück seine Sogkraft. Dass zu Anfang eine unerträgliche Hitze über dem Dorf liegt, schlachtet Kaiser-Mühlecker als meteorologische Großmetapher ebenso gekonnt wie genüsslich aus. Um dann im nächsten Kapitel beißenden Frost über die Szenerie zu legen. Was vermutlich die extremen Wechselfälle kargen Landlebens illustrieren soll, ist eine der wenigen Überstrapaziertheiten dieses ansonsten plakative Wendungen tunlichst vermeidenden Buchs. Als Jan dann mit Flors Frau ein Verhältnis beginnt (und dessen Gespielin Ines auch noch eines mit dem Bauamtmann Beham, der Flors bäuerlicher Existenz behördlich zusetzt), hat der Roman endgültig sein fast kammerspielartiges Setting gefunden. Heimlichkeiten also, wohin man auch schaut: Kaiser-Mühlecker benutzt sie als Gleitmittel, um das von immer neuen Vermutungen und Verdächtigungen angetriebene Schwungrad seines Ich-Erzählers am Laufen zu halten.
Im gedanklichen Strudel seiner immer kafkaeskere Züge annehmenden Spekulationen geht alle Gewissheit verloren. Ununterscheidbar wird, was tatsächlich ist und was sein könnte. Mal glaubt der nicht einmal auf seinen Flügen einen Überblick gewinnende Hobbypilot Jan, Flor wisse von seinem Verhältnis mit Hemma, dann wieder revidiert er dies. Mal unterstellt er eine Nebenbeziehung von Ines zu Beham, dann wieder wirkt es wie aus der Luft gegriffen. Kaiser-Mühleckers Erzähler tut nichts, um Gewissheit zu erlangen. Vielmehr ist ihm, „als sei ich zusehends nur noch von Wesen umgeben, aus denen, ohne dass sie es bemerkten, auf die eine oder andere Art und Weise das Leben wich“. Tatsächlich wirken alle Romanfiguren wie nicht mehr Herr ihrer selbst. Der Romantitel „Enteignung“ spielt insofern nicht allein auf den Landentzug an, den Flor und Hemma durch den Bau einer Windkraftanlage erleiden.
Dass einen dieses undurchsichtige Spiel mit lauter „es-könnte-sein“-Optionen dabei bis hin zum alle erzählerischen Fäden abermals neu verknotenden Ende nicht ermüdet, das ist das eigentlich Bemerkenswerte dieses Romans. Zum einen, weil Kaiser-Mühlecker immer wieder äußerst raffiniert Cliffhanger in sein erzählerisch dichtes Vermutungsgeflecht einarbeitet. Zum anderen, weil der 36-Jährige dafür einen kargen nüchternen Ton von kristalliner Klarheit findet, der auf berückende Weise zugleich etwas Schwebendes hat.
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung. S. Fischer, 224 Seiten, 21 €.
Lesung am 4. April (19 Uhr) im Saarbrücker Theater im Viertel (auf Einladung der Buchhandlung Raueiser im Rahmen des Festivals „ErLesen!“). Eintritt: zehn €.