Neues Festival „Brixen Classics“ Ein properes Festivalbaby und das achte Weltwunder

Brixen · Mitten in der Pandemie hat man in Brixen ein neues Klassikfestival geplant und gestartet. Warum diese Kühnheit jetzt belohnt wurde.

 Lauschen, plaudern, schlendern: Malerischer kann ein Open Air kaum sein. Im Park des Schlosses Pallaus bei Brixen war die gefeierte Wagner-Sopranistin  Camilla Nylund zu Gast.

Lauschen, plaudern, schlendern: Malerischer kann ein Open Air kaum sein. Im Park des Schlosses Pallaus bei Brixen war die gefeierte Wagner-Sopranistin Camilla Nylund zu Gast.

Foto: Andreas Tauber/Brixen Tourismus/Andreas tauber

Ausgerechnet Bananen: Oboen-Star Albrecht Mayer pusht sich fix noch mit zwei der gelben Kaliumbömbchen. Wie ein Kletterkönig beim Giro d’Italia. Dabei wäre das, was der Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker kurz darauf beim Kammerkonzert des neuen Festivals Brixen Classics leistet, nach Radsportlermaßstäben Schlusssprint plus Bergetappe. Vivaldis C-Dur Konzert (RV 450) fordert nämlich die Atemkunst aufs Äußerste: den Luftstrom halten, halten, halten.... Während man dabei weiteratmet. Anders gesagt: blasen, oder besser, pressen bis der Arzt kommt. Bis kurz davor zumindest. Mayer warnt die Gäste im Bibliothekssaal des Klosters Neustift prophylaktisch: „Wenn sich meine Gesichtsfarbe von zartem Rosa zu apokalyptischem Violett ändert, ist das normal...“

Ja, Oboespielen kann wie Powerlifting sein. So schwerelos der Klang auch tänzelt, so sehr gleicht des Oboisten Antlitz gelegentlich dem des Gewichthebers beim 150-Kilo-Hantel-Stoß. Trotz Kraftakt dringt von Mayer aber allein der edle, innige Klang ans Ohr. So süß muss wohl eine Göttin singen. Zugleich spielt er uneitel, allein der Musik verpflichtet. Man möchte ihm in einem fort Bravissimo zujubeln.

Nicht bloß dieser Vivaldi-Virtuosität wegen, die länger schon zu seinen Bravourstücken zählt. Mayer findet zudem in dem jungen Orchester, das Dirigent Daniel Geiss in nur wenigen Tagen aus jungen Musikerinnen und Musikern formiert hat, ideale Partner. Federnd, gewiss, auch mal etwas robust und gelegentlich unsortiert, eilen sie von Vivaldis Gassenhauer, dem Concerto alla rustica G-Dur zu Bachs Konzert für Oboe d’amore. Da rockt der Barock im Bibliotheks-Rokoko.

Gut auch, dass man sich für dieses Konzert einen geborenen Entertainer wie Albrecht Mayer nach Südtirol holte. Denn in diesem Umfeld, wo Architekturpracht diverser Jahrhunderte, fabulöse Fresken und sogar ein veritabler Wunderbrunnen, auf dem die Mönche neben den allseits bekannten sieben Weltwundern keck als achtes ihr Kloster verewigen ließen, auf den Besucher einwirken, könnte man vor lauter Ehrfurcht schon mal in die Knie gehen. Mayer aber hält mit dem nötigen Schuss Witz und Leichtigkeit gegen.

Wobei es ja exakt diese historischen Gemäuer in und rund um das 22 000-Einwohner-Städtchen Brixen sind, mit denen der Festivalneuling glänzt. Von der Hofburg, einst luxuriöser Bischofssitz, bis eben zum Kloster Neustift verfügt man über Top-Locations in Fülle. Andere Festspiele würden sich „von“ schreiben, hätten sie bloß einen. Hier sind es gleich ein halbes Dutzend. Klar, solche Schauplätze mit angesagten Klassikstars zu bevölkern, ist nicht gerade der innovativste Ansatz. Andererseits sind die Brixen Classics noch ein Festivalnovize, der sich erstmal Gehör verschaffen muss. Da helfen große Namen wie Albrecht Mayer, Camilla Nylund und Juan Diego Flórez.

Ein Coup aber: Erst vor Jahresfrist begann man mit der Planung – als in Italien die Pandemie noch grausam wütetete – und vor sieben Monaten erst mit dem Buchen der Künstler. Ein Hochrisikounterfangen also, weil keiner prophezeien konnte, ob die Inzidenzzahlen nun rauf- oder runterklettern. Dabei war der Corona-Ausnahmezustand in einem Punkt sogar von Vorteil. Weil in der Pandemie nämlich viele der sonst lange vorverplanten Künstler plötzlich wieder zu haben waren.

Der Urknall für die Brixen Classics datiert freilich davor. Schon einige Zeit fragte man sich beim Veranstalter, dem Brixen Tourismus, wie man dem Reichen, was man hat, Historie, paradiesische Berglandschaft mit mediterraner Vorahnung und Weinbau, noch ein  Touristenlockmittel hinzufügen könnte. Vor allem eines für betuchtere Herrschaften, die sich das Logieren und den Wein, den sie vor der Heimreise in den SUV-Kofferraum laden, gerne mal was kosten lassen. Sommerklassik hat sich da schon dutzendfach von Schleswig-Holstein bis Salzburg touristisch bewährt; in Brixen versicherte man sich übrigens clever des Know Hows des  Rheingau Musikfestival, wo man länger schon mit der Kombi Klassik und Wein punktet.

In Südtirol will man nun künftig im Frühsommer, bevor die großen Traditionsfestivals loslegen, eine Woche, maximal zehn Tage, konzentriert Programm machen. Drei Jahre gibt man sich, um zu sehen, ob das Festivalbaby laufen lernt, sagt Erica Kircheis von Brixen Tourismus, „wir werden das sehr genau evaluieren“. Die Provinz Südtirol, Brixen, weitere Kommunen im Eisacktal und regionale Sponsoren stützen das Vorhaben finanziell.

  Da rockt der Barock im Rokoko: Oboist Albrecht Mayer bei den Brixen Classics im prächtigen Bibliothekssaal des Klosters Neustift.

Da rockt der Barock im Rokoko: Oboist Albrecht Mayer bei den Brixen Classics im prächtigen Bibliothekssaal des Klosters Neustift.

Foto: Andreas Tauber/Brixen tourismus/Andreas Tauber

Jahrgang eins erfüllte denn trotz gewisser Pandemie-Einschränkungen in puncto Auslastung weitestgehend und künstlerisch voll die Erwartungen. Klar, in Brixen wird nicht groß experimentiert, trotz eines „Klanglabors“ für junge Musikerinnen und Musiker, aber zum Start hat man fraglos mit den Stars überzeugt. Wie etwa der finnischen Wagner-Diva Camilla Nylund. Im romantisch illuminierten Park des Renaissanceschlosses Pallaus (nach wie vor in Privathänden und sonst für Besucher verschlossen) adelt sie das Sommernachts-Open-Air mit ihrem goldenen Sopran. Wagner und Strauss hört man selten so sommerleicht. Klar, Puristen könnten mäkeln: alles elektronisch verstärkt. Doch gilt es ja gegenzuhalten, wenn etwa nebendran die Feuerwehr mit einem Tatütatata furiosa zum Löschen ausrückt – in Italien wird halt alles irgendwie zur Oper. Zu Wagner reichen dann Brixener Winzer noch ihre Weine. Man plaudert, schlendert, lauscht und fühlt sich so beschwingt, dass man glatt einen der vielhundertjährigen Bäume im Park umarmen könnte, auch wenn man nicht Peter Wohlleben heißt. Die Brixen Classics – ein Glück, dass die Südtiroler das riskiert haben.
www.brixenclassics.com

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