Interview „Digitalisierung macht uns nicht zu Gott“

München · Der Philosoph und Ex-Kulturstaatsminister warnt vor maßloser Euphorie beim Einsatz digitaler Technologien.

Mit der Künstlichen Intelligenz verbinden sich Zukunftshoffnungen und Unbehagen: Wird sie gefährlich oder ist sie von Nutzen? Ein Gespräch mit dem Ex-Kulturstaatsminister und Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin (64) über eine Ethik in Zeiten der Digitalisierung.

Sie leiten seit 2017 den Bereich Kultur am Zentrum für Digitalisierung Bayern (zd.b) und gehören seit Kurzem dem Direktorium des Bayerischen Instituts für digitale Transformation (bidt) an. Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht?

NIDA-RÜMELIN Man könnte salopp sagen: Deutschland ist spät aufgewacht. Und wir haben Erfindungen hierzulande nicht allzu ernst genommen – wie die MP3-Technologie, die vom Fraunhofer-Institut entwickelt wurde. Deutschland ist das Land mit der höchsten ingenieurswissenschaftlichen Kompetenz, es hat eine starke, technisch orientierte, mittelständische Wirtschaft und exzellente Fachkräfte. Ideale Bedingungen, die Digitalisierung in den produktiven Kerne voranzutreiben, anders als das aktuelle Silicon Valley Modell in den USA. Ich bin dafür, dass wir einen eigenständigen europäischen Weg einschlagen; der größte Wirtschaftsraum ist der europäische. Warum sollten wir also nicht ein Big Player der Digitalisierung werden – neben den Giganten USA und China?

Hört sich ungetrübt positiv an. Und die Kontrolle über unsere Daten?

NIDA-RÜMELIN Ein gutes Beispiel ist die Debatte über Huawei, die wir gerade führen, also die Frage unserer Abhängigkeit von technologischen Riesen. Vermutlich wird sich die Auffassung durchsetzen, dass es nicht sein kann, dass die europäische digitale Infrastruktur an einem chinesischen Technologie-Riesen hängt und man nicht wissen kann, was mit den Daten im Konfliktfall werden würde. Das Gleiche gilt auch für die USA. Kurzum: Es gibt Gründe, dass Europa in diesen Bereichen autonomer wird.

Haben wir noch die Kontrolle über unsere eigenen Daten wie auch über unsere Faszination für alles Digitale?

NIDA-RÜMELIN Das ist eine beunruhigende Entwicklung. In Kalifornien hängen Zehnjährige im Schnitt sieben Stunden täglich vor einem Bildschirm. Auch deshalb muss man mit digitalen Medien zielgerichtet im Unterricht umgehen.

Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass seit geraumer Zeit die meisten Menschen keine oder nur noch wenig Zeit füreinander haben – etwa für spontane Verabredungen?

NIDA-RÜMELIN Das hat damit zu tun, dass die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit zunehmend aufgelöst wird. Digitale Technologien verleiten genau dazu, keine Frage. Doch die Ursachen dafür liegen meines Erachtens tiefer: in einer umfassenden Ökonomisierung unserer Lebenswelten. Wir stecken in einer Ökonomisierungs- und Selbstoptimierungsfalle. Ich glaube auch nicht, dass die Digitalisierung ursächlich verantwortlich ist für die wachsende Verschärfung zwischen arm und reich. Diese Entwicklung hat schon mit dem Ende des Ost-West-Konflikts eingesetzt. Das ist Folge der Globalisierung, nicht der Digitalisierung.

Sie setzen auf dem Weg zum Digitalen Humanismus auf die Mündigkeit des Bürgers. Muss man nicht eine Art Codex für den Umgang mit digitalen Technologien schaffen?

NIDA-RÜMELIN Die Zielrichtung ist eher die Erkenntnis, dass wir auch mit allen digitalen Errungenschaften nicht zu Gott werden. Alle diese Systeme erkennen nichts, sind nicht intelligent, haben keine Absichten – weder gute noch böse. Alle hochentwickelten Technologien bleiben stets nur Hilfsmittel. Das ist eine wichtige Botschaft: Wir schaffen keine neuen personalen Identitäten! Da grassiert eine Art Befreiungstheologie, wonach die Technologien uns die Lösungen für alle Probleme präsentieren. Dahinter verbirgt sich eine uralte technologische Ideologie. Die hat der alte Henry Ford schon geträumt, wonach das Automobil die Welt befrieden wird, weil jeder mit jedem verbunden sein wird. Das ist natürlich grober Unfug. Das Automobil hat nicht zum Frieden beigetragen, während digitale Technologien gegenwärtig zur Unterdrückung in einer Reihe von diktatorischen Staaten effizient eingesetzt werden. Darum Vorsicht mit jeder Ideologisierung!

Unsere Reaktionen auf digitale Technologien scheinen entweder hysterisch oder unbegrenzt arglos zu sein.

NIDA-RÜMELIN Das stimmt. Das eine wie das andere beruht auf derselben Fehleinschätzung. Schließlich sind wir es, die Verantwortung für all das tragen. Die Technologien haben keine Eigendynamik, die wir nicht auch gestalten können – natürlich nur, wenn man es will.

Muss es so etwas wie eine digitale Ethik geben, auf die sich viele verständigen können?

NIDA-RÜMELIN Vorsicht. Die Ethik ist nicht der Ersatz des Priesterstandes früherer Zeiten, der mitteilt, was zu tun ist. Die Ethik hat eine viel bescheidenere, man könnte auch sagen: dienende Rolle. Sie soll klären, Kriterien abwägen und zeigen, wo es in der Diskussion Widersprüche gibt. Die Ethik kann nicht einen öffentlichen Diskurs ersetzen. Ziel des digitalen Humanismus ist, dass die Digitalisierung humanistische Werte und Normen für unser Zeitalter revitalisiert. Dazu gehört vor allem die Idee des Menschen als Autor seines Lebens.

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