Nicht von dieser Welt

Saarbrücken · Engel lassen sich nicht greifen. Das müsste Olga Martynova eigentlich wissen. Bereits ihr erstes Gedicht, das sie als Kind schrieb, handelte von diesen „gefiederten Fabelwesen“. Seitdem schwirren sie immer wieder durch ihre Texte. In ihrem neuen Roman mit dem sprechenden Titel „Der Engelherd“ versucht sie wieder, welche zu fangen.

Die meisten Kritiker werden auch von diesem Roman hingerissen sein, schwärmen wie "bilder- und anspielungsreich" die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin von 2012 schreibt. Keine Frage: Olga Martynova schafft es, einen eigenen Kosmos zu erfinden. Ein Paralleluniversum, in dem sich (über-)leben lässt. Vor allem in der ehemaligen Sowjetunion hat das eine große Tradition. Auch Martynova und ihr Mann Oleg Jurjew durften in ihrer Heimat nicht publizieren und gingen 1991 daher in den Westen, wo sie heute in Frankfurt/Main leben. Gedichte schreibt Martynova weiter auf Russisch, ihre Romane auf Deutsch.

Lang schon vermischen sich in ihren Büchern russische Erzählmuster mit urdeutschen. Man denke nur an ihren Roman "Mörikes Schlüsselbein" (2012). Auch im aktuellen ist das so, der sich liest wie eine wilde Mischung aus Andrej Bitow und Martin Mosebach (mit einem Schuss Arthur Schnitzler). Im Zentrum steht Caspar Waidegger, ein in die Jahre gekommener Autor, der Leben und Literatur nicht mehr auseinanderhalten kann. Zeit für Frauen hat er eigentlich keine. Der jungen Laura indes gewährt er hin und wieder eine Audienz im Bett. Nicht nur, um an ihr zu studieren, ob sich die Mulden beidseitig ihrer Lendenwirbelsäule auf oder über dem Po befinden. Sondern auch, weil Laura ihn und sein Werk zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit erwählt hat.

Das aber ist nur ein Handlungsstrang. Zwischengeschaltet sind ein zweiter und ein dritter: Ein mit "Zwischenfall am See" betiteltes Manuskript Waideggers erzählt von Fräulein S., einer Schauspielerin, die ihren Geliebten Leutnant K. im Krieg verliert. Damit ihre Tochter nicht ohne Vater aufwächst, heiratet sie einen gewissen Leutnant W.. Der aber schiebt seine Stieftochter ab in eine Anstalt, in der das behinderte Mädchen euthanasiert wird. Und dann ist da noch das "Journal eines Engelssüchtigen", in dem es sehr überirdisch zugeht. Eine Art zarter Annäherungsversuch an die unschuldigen Himmelwesen.

"Es geht mir um unbegreifliche Geschichten, wie die der kranken Kinder, die nur deshalb getötet wurden, weil Ärzte ihre Gehirne präparieren und untersuchen wollten. Wie kann man darüber überhaupt schreiben? Ich meine: literarisch", kommentierte Martynowa ihren Roman im Interview. Womit sie bei ihrem eigentlichen Thema ist: Schreiben über das Schreiben. Ihre Figuren sind meist Autoren. In ihren Büchern geht es ums Erzählen. Authentisch ist an dieser körperlosen Prosa nichts. Sie ist nicht greifbar. Sehr erfunden. Der Erkenntnisgewinn hält sich in Grenzen.

Olga Martynova: Der Engelherd. S. Fischer, 362 Seiten, 23 €.

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