„Nahschuss“ neu im Kino Der Tunnelblick des Stasi-Mitläufers

Saarbrücken · Vom Ingenieur zum Stasi-IM zum „Volksverräter“. Regisseurin Franziska Stünkel legt mit „Nahschuss“ einen eindringlichen Film über das DDR-Regime vor.

 Lars Eidinger als Franz Walter, der nach einiger Zeit bei der Stasi Gewissensbisse bekommt – und handelt.

Lars Eidinger als Franz Walter, der nach einiger Zeit bei der Stasi Gewissensbisse bekommt – und handelt.

Foto: dpa/Alamodefilm

Die Ferne ist verheißungsvoll. Dem frisch promovierten Ingenieur Franz Walter (Lars Eidinger) steht Mitte der 1970er-Jahre eine einjährige Studienreise ins äthiopische Addis Abeba bevor – und er verhält sich, wie es ein systemtreuer DDR-Bürger nicht tun dürfte. Beim letzten Abend mit seiner Freundin Corina (Luise Heyer) wie auch am Flughafen ist offensichtlich, dass sich sein Bedauern darüber, die DDR hinter sich lassen zu können, sehr in Grenzen hält. Franz Walter will beruflich schnell voran und dabei auch das System zu seinem Vorteil ausnutzen; die Reise ins (verbündete sozialistische) Ausland kann ihm nützlich sein, um auf dem Weg zu einer Hochschulkarriere rascher zu seinem Ziel zu gelangen.

Der Staatssicherheit aber sind die Ambitionen des Nachwuchs-Wissenschaftlers nicht verborgen geblieben. Und so wird nichts aus Walters Reise. Noch vor dem Start aus dem Flugzeug geholt, wird ihm in Aussicht gestellt, schon in Kürze die Nachfolge seiner Professorin antreten zu können. Dafür und bis dahin müsse er seine Talente allerdings zuerst in die „Hauptverwaltung Aufklärung“ einbringen, wie ihm der Stasi-Mitarbeiter Dirk Hartmann (Devid Striesow) eröffnet. Walters erste Aufgabe? „Den Frieden sichern! – Sektor Fußball!“

Franziska Stünkels Historiendrama „Nahschuss“ berührt einen Bereich, in dem das DDR-Regime sich im internationalen Vergleich besonders profilieren wollte und sich daher auch mit besonders unfairen Mitteln Vorteile verschaffte: den Sport. Der Fall, in den Franz Walter hineingezogen wird, ist der eines abtrünnigen Fußballers: Horst Langfeld hat die DDR verlassen und kickt nun für den Hamburger SV – ein Affront in den Augen des ostdeutschen Politapparats.

Walter wird auf ihn angesetzt und erweist sich sofort als gut steuerbar. Von Skrupeln ist bei ihm anfangs nichts zu spüren, als Hartmann und er einem Mannschaftskameraden Langfelds eine Agentin aufdrängen und diesen mit den Fotos der Affäre zu Spitzeldiensten erpressen. Auch im Privatleben fügt sich Walter den Erwartungen: Die neue Wohnung nimmt er als willkommenes Geschenk, seinen Eltern verheimlicht er das Wesen seiner neuen Arbeit ebenso wie seiner Freundin, die er nun heiratet, um mit dem Segen seiner Stasi-Vorgesetzten in den Westen fahren zu können.

Dennoch: Franz Walter gelingt es nur eine Zeitlang, die perfide Gestalt seiner Tätigkeit schönzufärben und auszublenden. Zum Kipppunkt wird für ihn die Entscheidung seiner Vorgesetzten, Langfelds Frau eine falsche Krebsdiagnose zu vermitteln, um ihren Mann sportlich endgültig aus dem Tritt zu bringen. Walter taucht aus seiner Deckung auf, wird unvorsichtiger und versucht, sowohl den Fußballer als auch seine Frau vor der Lüge zu warnen.

Der Gewissensumschwung erfolgt dramaturgisch etwas abrupt, wird aber durch die einmal mehr hochpräzise Darstellung von Lars Eidinger glaubwürdig. Er macht die egoistische Motivation für Walters Eingliederung in die Stasi-Mitarbeit genauso erfassbar wie den Absturz in Schuldgefühle, Frust und Paranoia. Unterstützt wird er dabei von einer ausgefeilten Bildsprache, die den „Tunnelblick“ der Hauptfigur auf der visuellen Ebene verstärkt: Ganz auf Walter ausgerichtet, bleibt die Kamera von Nikolai von Graevenitz eng am Protagonisten und macht den Hintergrund oft nur verschwommen sichtbar, zudem entfernt sie sich auch nicht für Einstellungen, die einen größeren Überblick erlauben würden.

Unter den jüngeren filmischen Auseinandersetzungen mit der DDR ist „Nahschuss“ auch deshalb auffallend, weil er die schuldhafte Verstrickung des Protagonisten nicht aus dem Blick verliert. Franz Walters Bereitschaft zur Verschwörung und Manipulation, auch ohne größere Identifikation mit der sozialistischen Ideologie, macht ihn zur zwiespältigen Figur, was am Mitgefühl mit seinem Schicksal aber nichts ändert. Im Gegenteil: Gerade nach seiner Enttarnung gelingen dem Film seine intensivsten Szenen, wenn Walter Verhaftung, Folter und Schauprozess durchleidet.

Dabei führen die unnachgiebige Härte und Willkür des DDR-Justizsystems, bis hin zum Einsatz der Todesstrafe, in Franziska Stünkels Film nahtlos die zuvor gezeigte Menschenverachtung in den Geheimdienstumtrieben fort. Dass der Regisseurin damit eine ungewöhnlich umfassende und dabei sachliche Darstellung des ostdeutschen Regimes gelungen ist, hebt „Nahschuss“ als Kinofilm über die deutsche Historie auf einen hohen Rang.

 Devid Striesow spielt den Stasi-Vorgesetzten.

Devid Striesow spielt den Stasi-Vorgesetzten.

Foto: Alamode/Franziska Stünkel

Ab Donnerstag im Saarbrücker Filmhaus. www.filmhaus.saarbruecken.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort