Buchkritik Zwei Gefangene derselben Illusion

Saarbrücken · Vornehmlich als Lyrikerin ist Ulrike Almut Sandig bekannt geworden. Nun legt die 41-Jährige ihren ersten Roman vor, „Monster wie wir“ – sie erzählt vom Überleben nach sexuellem Missbrauch.

 Ulrike Almut Sandig erzählt in ihrem Roman-Debüt von zwei Menschen, die in stummem Leid miteinander verbunden sind.

Ulrike Almut Sandig erzählt in ihrem Roman-Debüt von zwei Menschen, die in stummem Leid miteinander verbunden sind.

Foto: Villa Concordia/Michael Aust

Der  dreiseitige erzählerische Prolog, den Ulrike Almut Sandig ihrem Buch ,,Monster wie wir“ voranstellt, ist genauso nebulös, ja rätselhaft, wie es ihr Romandebüt danach zunächst einmal bleibt. Erst nach und nach wird klar, dass die bislang vornehmlich als Lyrikerin bekannt gewordene 41-jährige Autorin, die auch zwei Erzählbände  (darunter mit ,,Flamingos“  2010 ein vorzüglicher Band voll sprachgewaltiger Geschichten)  vorgelegt hat, in ihrem ersten Roman ein Beziehungsgeflecht knüpft, das gleich mehrere Opfer sexuellen Missbrauchs  aneinander bindet.

Zwei höchst ungleiche, in stummem Leid verbundene Erzählfiguren, Ruth und Viktor, stehen im Zentrum des Romans. Als Kindergartenkinder wurden sie Ende der 1970er im alten Braunkohlegürtel  der DDR enge Freunde  – Ruth wird sich als introvertierte Tochter eines sie (und ihren Bruder Fly) körperlich züchtigenden Pfarrers, der in seinem bohemienhaften  Äußeren an den jungen Brecht erinnert, bald in die Musik flüchten. ,,Wäre Nichtsanmerkenlassen eine Olympiadisziplin gewesen, ich hätte unsere Republik vertreten können“, sagt  Ruth, aus deren Perspektive der erste Teil des Romans erzählt wird, im Rückblick über sich. Als Kind hat sich ihr Großvater regelmäßig an ihr vergangen. Viktor, dessen Vater Unteroffizier der NVA ist, widerfährt als Kind das Gleiche: Der Freund seiner älteren Halbschwester missbraucht ihn jahrelang – immer dann, wenn die Eltern abends alleine ausgehen.

Ihre Hilflosigkeit und ihr Schweigen verbinden Ruth und Viktor. ,,Wenn man nicht darüber spricht, dann ist es nicht geschehen“,  war die Devise, mit der beide  durch konsequente Verdrängung  Gefangene einer notdürftigen Illusion blieben. Konsequenterweise belässt es Sandig  bei vielsagenden Andeutungen – etwa, wenn Ruth ihren Großvater als Vampir bezeichnet.  Während sie sich Geige spielend auf den Dachboden zurückzieht, verliert Viktor sich in der Betrachtung seines beleuchteten Mondglobus und beginnt später,  seinen Körper zu stählen.

 Sandig

Sandig

Foto: Schöffling & Co

Sandig leuchtet die Kindheit und Jugend ihrer zwei Figuren nur kursorisch aus. Vor ihrem Suchscheinwerfer flackert hier mal ein hüpfend auf dem Sofa verbrachter Nachmittag auf oder dort ein Besuch in der spärlich ausgestatteten Leihbücherei. Man erfährt von Küchengesprächen mit der ihre Traurigkeit versteckenden Mutter, von Streitereien der Eltern, viel häuslicher  Gewalt („Die einen hatten Bisse am Hals. Die anderen rote Backen, Hintern oder blaue Rücken.“). Szenen von durchs Dorf fahrenden russischen Panzerbrigaden wechseln sich mit Schneeballschlachten voller Übermut ab. So plastisch die eine oder andere Episode gerät – ein zündendes Ganzes formt sich in dem um Ruth kreisenden ersten Romanteil, der bis zu den Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 reicht,  aus diesen überwiegend seltsam blutleeren Erinnerungsstücken nicht.

Dichter, weil konzentrierter und weniger sprunghaft  erzählt, gestaltet sich die zweite Romanhälfte, die von den Au-Pair-Erfahrungen Viktors in einer vermögenden Familie in der Nähe von  Marseille handelt, wo der hünenhafte, im Osten zuvor in die Neonazi-Szene abgerutschte Viktor einen Neuanfang sucht.  Auch wenn er „wie ein Nazi-Arschloch“ aussieht, hat Viktor unter seiner harten Schale einen weichen Kern. Wegen psychischer Instabilität ist er, der Sohn eines überzeugten NVA-Soldaten, beim Bund ausgemustert worden.  In Rückblenden erfahren wir, wie Viktor in seiner perspektivlosen ostdeutschen Heimat, die auch nach der Wende weiter vom Braunkohleabbau zerschunden und zu einem „ostelbischen Grand Canyon“ verkommen wird, später in eine Schlägergang hingeriet und in einer der dichtesten Szenen des Romans in einer linksalternativen, von seinem Neonazitrupp verwüsteten Disco Ruth wiederbegegnet.

Die französische Upperclass-Familie, in der Viktor als Mädchen für alles anheuert, zeigt derweil hinter ihrer blendenden Fassade aus Wohlstand und Geschäftigkeit Abgründe, wie sie Viktor nur allzu gut kennt. Allein, das Zentralmotiv von Ulrike Almut Sandigs Romandebüt wird dadurch derart überstrapaziert, dass dessen innere Glaubwürdigkeit  verloren geht. Hinzu kommt, dass Sandig die zehnjährige Tochter der Familie  am Ende jedes Unterkapitels in tagebuchartigen Einlassungen Viktors  Au-Pair-Zeit altklug kommentieren lässt – ein erzählerischer Fremdkörper, der der Romankomposition alles andere als gut tut.

Nicht anders verhält es sich mit dem (spiegelbildlich zur Einleitung kryptischen) Schlussteil des Romans, in dem Ruth abermals zur Erzählerin wird und ihrem finnischen Freund Voitto in einem sprunghaften, 20-seitigen finalen Monolog alle Erzählfäden gewissermaßen vor die Füße wirft.   „Wann hatte ich eigentlich aufgehört mit dem Fühlen?“, fragt sie voll galligem Zynismus. Ihre Bilanz  ist ernüchternd: „Die Geschichten gehen zu Ende und halten den Lauf der Zeit nicht auf. Warum sich dagegen wehren?“ Dennoch wird sie zuletzt ein Zeichen setzen, das Viotto nicht vergessen wird. Ulrike Almut Sandig wiederum setzt mit  ihrem Romandebüt zwar fraglos thematisch ein wichtiges Zeichen, nicht jedoch durch dessen nur in Teilen gelungene literarische  Umsetzung.

Ulrike Almut Sandig: Monster wie wir. Schöffling & Co, 233 Seiten, 22 Euro.
Kontakt: ulrike-almut-sandig.de

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