Literaturnobelpreis Mensch bleiben in unmenschlicher Zeit
Stockholm · Der Literaturnobelpreis geht an den Japaner Kazuo Ishiguro. Seit 1960 ist England seine Heimat – und oft sein Thema.
Nach der Entscheidung für Bob Dylan hat die Schwedische Akademie in Stockholm auch diesmal wieder alle überrascht. Margaret Atwood und Amos Oz hatte man auf der Rechnung. Und natürlich den ewigen Favoriten Haruki Murakami. Aber niemand hatte mit Kazuo Ishiguro gerechnet, einem 1954 in Nagasaki geborenen, aber schon seit 1960 in England lebenden Japaner, der womöglich englischer als die Engländer denkt und schreibt.
Ishiguros bekanntester und wohl bester Roman „Was vom Tage übrig blieb“ (1989) erzählt von dem Butler Stevens, der sich durch seine tadellos britischen Tugenden – Pflichtbewusstsein, Zurückhaltung, noble Diskretion – und ein geradezu samuraiartiges Berufsethos um sein Lebensglück bringt, persönlich und politisch schuldig macht. Auch James Ivorys Verfilmung mit Emma Thompson und Anthony Hopkins war ein weltweiter Erfolg. Ishiguro nennt als Vorbilder Tschechow und Dostojewski, aber es stecken auch eine Menge Jane Austen, Existenzialismus und japanische Bücher in ihm. Der mit großer Liebe und Sensibilität geschilderte Mikrokosmos von Darlington Hall, eine Art „Downtown Abbey“, zeigt seine große Kunst: „Wir alle sind Butler“, dienstbare Geister mit besten Absichten, ohnmächtig und bemüht. Die vornehmen Herrschaften oben machen sich manchmal mit dem Gesinde unten gemein, aber umgekehrt haben auch die Butler und Haushälterinnen unten Gefühle und Wünsche, an denen sie zugrunde gehen können.
Ishiguro ist kein Engländer, aber er hat in seinem schmalen Werk (sieben Romane, ein paar Erzählungen, Drehbücher und Texte für die Jazzsängerin Stacey Kent) immer wieder mit den Codes und Mythen der „Englishness“ gespielt; wie umgekehrt übrigens auch mit japanischen Mythen wie dem Harakiri. Das ist, wie er selber einmal zugab, sein „Trick“: Er imaginiert ein England, das es so nie gab oder das er jedenfalls nie erlebt hat. In „Als wir Waisen waren“ spielt er mit den Mythen des Detektivromans à la Agatha Christie. „Alles, was wir geben mussten“ (2005), eine düstere Dystopie um Organraub an Kindern, ist ein klassischer Internatsroman, und auch in seinem jüngsten Roman „Der begrabene Riese“, einer Aventiure aus der Zeit von König Artus, variierte Ishiguro vor zwei Jahren ein urenglisches Genre: keltische Fantasy mit Rittern, Drachen und Prinzessinnen.
Aber das alles sind nur Hüllen, in denen er existenzielle Themen und geschichtsphilosophische Fragen verhandelt: Wie kann man in finsteren Zeiten ein anständiger Mensch bleiben? Ist das Vergessenkönnen nicht manchmal auch Segen und Gnade? In „Der begrabene Riese“ etwa geht es an der Oberfläche um unchristlichen Aberglauben, Schlachtrösser und Don Quichottes, aber eigentlich um die Nachwehen eines vergessenen Krieges: Ein altes Paar macht sich auf die Suche nach dem verstorbenen Sohn und findet nur sein Denkmal.
Kazuo Ishiguro kam im Alter von fünf Jahren nach England; sein Vater arbeitete als Ozeanograph auf den Ölfeldern im Nordatlantik. Als Kind wollte er Popmusiker werden, und die Liebe zur Musik ist ihm geblieben, wie seine Erzählband „Bei Anbruch der Nacht“ zeigte. Er studierte Philosophie und Literatur und begann, ermuntert von Lehrmeistern wie Malcolm Bradbury und Angela Carter, Kurzgeschichten und Romane zu schreiben, die es ihm bald schon ermöglichten, seinen Job als Sozialarbeiter aufzugeben. Ishiguro war nie autobiografisch im engeren Sinne, aber sowohl in seinem Debütroman „Damals in Nagasaki“ (1982) wie in „Der Maler der fließenden Welt“ (1986) werden seine Figuren auf schmerzhafte Weise in England mit ihrer japanischer Geschichte, ihrer brüchigen Identität und ihrer Schuld konfrontiert.
Damals öffnete sich die englische Literatur gerade für die multikulturellen Erfahrungen und Schreibweisen der Migranten aus den ehemaligen Kolonien. Ähnlich wie Salman Rushdie profitierte auch Ishiguro von diesem „Exotenbonus“. Der Booker-Preis für „Was vom Tage übrig blieb“ bedeutete 1989 seinen Durchbruch als Autor; privat war er schon vorher durch seine Heirat mit einer Schottin in seiner neuen Heimat angekommen. „Je bekannter ich wurde, desto weniger fragten mich die Leute über Japan“, sagte Ishiguro einmal. Kein Wunder: Sein Englisch ist makellos, sein Stil brillant. Selbst in experimentelleren Romanen wie „Die Ungetrösteten“ ist Ishiguro nie hermetisch verschwurbelt. Im Gegenteil: Er benutzt gern als trivial geächtete Genres wie Fantasy oder Krimis, um komplexe Fragen von Anstand und Menschenwürde zu erörtern.
Der Preisträger äußerte sich bislang nur japanisch bescheiden und britisch zurückhaltend. Politische Statements sind von ihm nicht zu erwarten (bis auf einen Brexit-Protest vor zwei Jahren). Ishiguro überzeugt durch sein Werk.