Mein Papa, der Kanzler

Saarbrücken · Der Vater hatte immer viel zu tun – kein Wunder, er war Bundeskanzler. Willy Brandts Sohn Matthias hat eine Sammlung von Geschichten über seine Jugend in Bonn geschrieben. Die sind mal etwas banal, mal sehr treffsicher beobachtet.

 Gute alte Zeiten, mit Halstuch und Hollywoodschaukel. Bundeskanzler Willy Brandt mit Ehefrau Rut und Sohn Matthias in den Sommerferien 1972 in Norwegen. Foto: Ossinger/dpa

Gute alte Zeiten, mit Halstuch und Hollywoodschaukel. Bundeskanzler Willy Brandt mit Ehefrau Rut und Sohn Matthias in den Sommerferien 1972 in Norwegen. Foto: Ossinger/dpa

Foto: Ossinger/dpa

Die späten 60er - die Zeit von Jinglers-Jeans-Glöckchen, Timex-Uhren, Hans-Joachim Kulenkampff - und von Willy Brandt, Kanzler und Vater von Matthias Brand, Jahrgang 1961. Durch die Städte fahren Oberleitungsbusse, in denen genau wie beim Arzt noch geraucht werden darf. In den Bussen bestehen Soldatenwitwen und Kriegsinvaliden auf ihren Sitzplätzen. Die Jungen gehen zum Schulgottesdienst und zum Fußballtraining, in ihren Kinderzimmern üben sie sonnenbebrillt vorm Spiegel Luftgitarre zu "She Loves You". Nach heutigen Maßstäben haben die leichtbekleideten Frauen in den Illustrierten noch sehr viel an. Am 21. Juli 1969 landen drei Amerikaner auf dem Mond, was nicht folgenlos bleibt für die Berufswünsche der Kleinen.

In diesem Koordinatensystem sucht ein Kind - Matthias Brandt - nach Orientierung, das aus Berlin ins deutlich kleinere Bonn am Rhein gekommen ist, weil Politiker einst den umgekehrten Weg gehen mussten. Hier lebt die Familie in einem großen weißen Haus mit Park. Am Ende der Einfahrt ist Schluss an einem mit Zacken versehenen Rolltor. Zudem bietet der allpräsente Wachdienst zusätzlichen Schutz. Bei ihm muss das Kind sich abmelden, wenn es das Haus verlassen will. Und das will es natürlich, weil es sich nach nichts stärker sehnt als nach Normalität und der Gemeinschaft der anderen. Damit aber hat es so seine Tücken, wenn der Vater der Bundeskanzler des Landes ist.

Will man einfach nur mal den Rummel auf der anderen Rheinseite besuchen, geschieht das mit Blaulicht und Eskorte, der kleine Matthias bekommt an der Losbude so viele Lose, bis er den Hauptgewinn zieht; bloß Zeit vom Vater bekommt es nur in den seltensten Momenten, weil der stets und immer zu tun hat. Da sind die nach den aufgerauchten Zigarillos leeren Blechschachteln für die gesammelten Briefmarken schon eine seltene Gabe. Also hockt das Nesthäkchen stuhlkippelnd in seinem Zimmer, streift die Astronautenausrüstung über oder grübelt überm Zauberkasten und träumt sich weg, wobei die fürsorgliche Mutter mit Fieberthermometer und Niveacreme zur Stelle ist, wenn es nottut. Dabei wäre es viel wichtiger, dass nicht immer alles andere viel wichtiger ist. Die schönste Fußballausrüstung hilft nichts, wenn dem untalentierten Torwart im entscheidenden Moment die Mütze über die Augen rutscht. Nur Ansgar hilft, weil der Vertriebenensohn in der Klasse noch ein bisschen mehr zum Prügelknaben taugt.

Warum soll man das lesen? Weil jede Kindheit schöne Geschichten bietet? Der Schlüssellochblicke wegen? Weil Matthias Brandt, deutlich jüngster der drei Söhne von Rut und Willy Brandt, selbst ein Fernseh- und Leinwandgesicht ist und vom Münchner "Polizeiruf 110"-Hauptkommissar Hanns von Meuffels bis jüngst zu Maria Schraders Stefan Zweig-Film "Vor der Morgenröte" ein stets überzeugendes noch dazu? Der Schuster ist nicht bei seinem Leisten geblieben heißt hier: der Brandt nicht bei seinem Feuer. Soll man seine Erinnerungen also überhaupt lesen?

Nein und ja. Nein, weil vieles gar zu betulich am Banalen oder am Gewollten schrammt. Ja, weil mit viel Sentiment und ohne Aufdringlichkeit ein differenziertes Bild der Eltern gezeichnet wird, das tiefere Einblicke gestattet. Und ja, weil mit mindestens einer Geschichte ein wirkliches Kabinettstück gelingt. Da geht es um eine Radtour, die die beiden Hitzköpfe Brandt und Wehner versöhnen soll. Auch der Sohn soll teilnehmen und ist hier endlich mal der Überlegene, weil sein Vater der Radbedienung unkundig ist. Er hatte eben stets Wichtigeres zu tun. Nun liegt er unterm Drahtesel im Möhrenbeet, Arbeitskollege Wehner plappert weiter, die Sicherheitsbeamten senken die Blicke vor der "psychologisch anspruchsvollen Situation". Was bleibt, ist das Mitgefühl des Sohnes.

Matthias Brandt: Raumpatrouille. Geschichten. Kiepenheuer & Witsch. 176 Seiten,

18 Euro.

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