Masse Mensch oder: Wir sind alle unfrei

Saarbrücken · Der neue zweiteilige Saarbrücker Tanzabend „Konjetzky.Barros“ fordert das Publikum. Bei der Uraufführung wurden die Choreografinnen gefeiert.

 Szene aus Liliana Barros' „My name is Legion“, inspiriert von der Malerei Daniel Richters. Fotos: Bettina Stöss

Szene aus Liliana Barros' „My name is Legion“, inspiriert von der Malerei Daniel Richters. Fotos: Bettina Stöss

Die eine (Anna Konjetzky) ist bereits in der freien Tanzszene als Choreografin etabliert. Die andere (Liliana Barros) will das noch schaffen. Ende der Saison beendet sie ihre Tänzerinnen-Laufbahn, verlässt Saarbrücken. Hier hat sie sich in über zehn Jahren den Spitzenplatz im Ensemble erarbeitet, ist eine markante Tänzerpersönlichkeit mit enormen Sympathiewerten beim Publikum. Insofern war es keine Überraschung, dass die Alte Feuerwache am Samstag nach der Uraufführung von Barros‘ 30-minütigem Stück "My name is Legion" vor Begeisterung kochte. Als wollte man Barros nicht nur für viele Glücksmomente Dank sagen, sondern sie beflügeln für ihre Zukunft.

Doch "My name is Legion" (nach einem Bibelzitat) hinterließ allenfalls einen passablen Eindruck. Für ihren ersten längeren Tanzabend hat sich Barros das Thema Gruppierung, Ballung und Bewegung vorgenommen, hat sich (nicht nur farblich) von der Malerei Daniel Richters inspirieren lassen.

Was treibt die Masse Mensch an? Das fragt auch Anna Konjetzky. Tanz funktioniert bei beiden Choreopgrafinnen als soziales Laboratorium. Die Ästhetiken könnten freilich unterschiedlicher kaum sein, da trafen zwei Kosmen aufeinander. Bei Barros stecken die sieben Tänzer in knallengen, bonbon-bunten Ganzkörperanzügen, die sie entindividualisieren. Richter setzt Körper als Farbkleckse ein, arbeitet mit Verschlingungen, Spreizungen, Ballungen, Verkettungen, legt die unbewusst obwaltenden Energien - Sex und Aggression - frei. Auch bei Barros werden die Tänzer von geheimnisvollen Energien zu- und ineinander getrieben: eine sonderbare Herde, ängstlich, staunend, ferngesteuert.

Doch erotisch motiviert? Nie. Alles wirkt unterkühlt, steril. Die Körper verdrehen und verrenken sich ruckhaft, bauen Binnenspannungen auf, bilden zackige Konturen und fließen trotzdem geschmeidig zusammen. Das alles sieht mitunter nach mechanischem Posieren aus. Auch entscheidet sich Barros nicht für radikale Abstraktion, sondern spielt mit narrativen Elementen, setzt Sinnrätsel in Gang - ohne Antworten zu haben.

Agiert wird vor weißen Wänden, in hellem Licht, links baumeln bunte Gummischläuche von der Decke, die die Tänzer irgendwann wie Leinen benutzen: Keiner büxt hier aus. Aber eine (Louiza Avraam) kommt dazu, in rosa Spitze, ein Eindringling, halb Mensch, halb Tier. Sie bändigt die Gruppe, die sich vermummt und zu einer Soldateneinheit formiert hat. Barros hat ihrer Kollegin ein Solo geschrieben, in dem man sie selbst, die Bizarre, Verquere, Intensive, gerne gesehen hätte. Bombastische Orgelklänge (Musik: Martin Mitterstieler) zwingen die Tänzer vor der Erlöserin auf die Knie. Doch die Erschütterung, man sieht sie nicht, man spürt sie nicht. "My name is Legion" stößt nicht zu unseren Nervenbahnen vor.

Ganz anders Anna Konjetzkys "Ground", ebenfalls 30 Minuten lang, ebenfalls mit Bravos bedacht. Bereits die schmerzhaft laute Industrial-Musik von Sergej Maingardt geht direkt ins Blut, wühlt auf: Wummern, Maschinengewehr-Klackern, U-Bahn-Dröhnen, Knurren und Quietschen. Erbarmungslos, düster. Die provokante Verweigerung von Gefälligkeit wiederholt sich in der leeren, schwarzen Bühne und den unvorteilhaften Straßenklamotten der fünf Tänzer (Kostüme: Linda Sollacher). Auch Konjetzky beschäftigt das Thema Masse und Individuum, Veränderung und Erstarrung, Eigen- und Gruppendynamik. Ihre Tänzer variieren das Thema Unfreiheit, arbeiten mit Alltagsmustern und Zufalls-Einspeisungen, zucken und beben mechanisch wie Sprungfedern. Fallen um wie angeschossen, erdulden unmenschliche Verzerrungen. Die Tänzer führen vor, wie die Masse Mensch aneinander klebt. Erst Kuben, die von der Decke stürzen, splittern die Gruppe auf, machen die Protagonisten zu Einzelwesen. Glücklicher wirken sie nicht.

In "Ground" herrscht ein gnadenloses Pulsieren, man erlebt, ja erleidet eine Power-Präsentation, brutal, unschön, uneitel. Wird Zeuge einer beeindruckenden tänzerischen Verausgabung; zu Recht gab es Bravos. Konjetzky versteht Tanz nicht als visuelles Spiel, sondern als Physis gewordene Anklage. Als Angriff. Angenehm ist das nicht, aber anregend. Mit dem eher artigen Barros-Beitrag ergibt das ein belebendes Wechselbad.

 Szene aus Anna Konjetzkys bezwingender Choreografie „Ground“.

Szene aus Anna Konjetzkys bezwingender Choreografie „Ground“.

Nächste Termine: 21.2., 26.2., 10.3. ; Karten unter (0681) 30 92 488.

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