Literatur Marcel Beyers Buch der Tränen

Saarbrücken · Der Georg-Büchner-Preisträger liest am Mittwoch im Saarbrücker Künstlerhaus.

(rüd) Marcel Beyer hatte im vergangenen Jahr in Frankfurt die legendäre Poetikvorlesung inne. Der Obertitel seiner Reden lautete „Das blinde, blindgeweinte Jahrhundert“. Nun sind seine Vorlesungen als Essayband erschienen. „Das blindgeweinte Jahrhundert“ ist zwar, wie Beyer am Ende feststellt, keine Geschichte der Tränen geworden, aber doch ein Buch der Tränen.

Schon im ersten Teil zeigt sich zwar nicht so sehr, wo der im letzten Jahr mit dem Büchnerpreis ausgezeichnete Marcel Beyer mit seinem Buch der Tränen hin will – ein vorgegebenes Ziel würde seinem assoziativ-poetischen Schreiben nicht entsprechen. Aber es zeigt sich doch, was ihn am tränenseligen 20. Jahrhundert interessiert.

Wie werden Tränen inszeniert oder bewusst missbraucht? Welche Wirkung lässt sich mit ihnen erzeugen? Können sie gar als Machtmittel eingesetzt werden – etwa wenn Barack Obama oder Helmut Kohl weinen? „Du sollst nicht weinen“ singt Heintje in den späten sechziger Jahren im Wohnzimmer der Großeltern Marcel Beyers – und rührt damit eine Generation zu Tränen, die eifrig dabei war, zwölf Jahre deutscher Geschichte zu verdrängen. So eine Erinnerung setzt beim 1965 geborenen Autor ganze Assoziationsketten in Gang, führt vorwärts und zurück und mitten hinein in die Gegenwart. Ungeahnte biographische, literarische und historische Bezüge werden spielerisch hergestellt.

Es wäre vermessen, wollte man versuchen, die vielen klugen Beobachtungen Beyers zu referieren oder auch nur einen Bruchteil der Geschichten, Quellen, Verweise nachzuzeichnen, die Beyer in seinem „blindgeweinten Jahrhundert“ uns nach und nach entdeckt. Eines aber muss unbedingt erwähnt werden: Sprache und Form sind hier die wesentlichen Erkenntniswerkzeuge. Diese Essays erzeugen eine schillernde Komplexität, die sich beim Lesen im Kopf des Lesers immer weiter fortschreibt – zu einer eigenen Geschichte der Tränen.

Marcel Beyer: Das blindgeweinte Jahrhundert. Suhrkamp, 270 Seiten. 22 €.

Lesung am Mittwoch, 20 Uhr, im Künstlerhaus in Saarbrücken.

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